[:de]Es gibt drei Formen von Sozialkontrolle: die Integration, die Disziplinierung und die Assimilation. Bei letzterem erscheinen Asylsuchende als die subalterne Kultur, die der „Leitkultur“ der hegemonialen Macht gegenübersteht. Aktuell ist ein Etikettierungsprozess gegenüber Asylsuchenden festzustellen. Diese Fremdzuschreibungen umfassen Kategorien wie Opfer oder Risikoträger. Viele flüchten wegen Krieg und politischer Verfolgung. Wenn sie ankommen, erleben sie wiederum eine Art der Sozialkontrolle. Weil sich durch die Migration alles ändert, wie Wohnort, Status und Sprache, ist ein Asylsuchender mit mehr Vorschriften, Integrations- und Assimilationszwang konfrontiert und erfährt in seinem Alltag mehr Fremdbestimmtheit als Einheimische. Das erschwert das Aufbauen eines neuen Lebens erheblich.
Während des ganzen Asylprozesses ist Sozialkontrolle zu beobachten. Als erstes kommt man in Kontakt mit dem Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ). Das EVZ zeichnet sich als eine totalitäre Institution aus, wo der Alltag stark strukturiert ist wie im Militär. Sicherheitsregeln und Sicherheitspersonal in Uniform sind sehr präsent. Bei jedem Eintritt findet eine Durchsuchung statt. Das Aufstehen, das Essen, das Duschen, das Rausgehen und das Hineinkommen sind geregelt. In bestimmten Zeiten werden Schlafzimmer geschlossen und die Bewohner müssen sich in den Aufenthaltsräumen aufhalten. Es gibt kleine Ämtlis. Soziale Kontrolle erscheint hier in Formen der Fremdbestimmung des Alltags und der Disziplinierung. In den Anhörungen werden Fragen zum Reiseweg und den Asylgründen gestellt. Die zweite Befragung über den Asylgrund dauert stundenlang. Es werden oft dieselben Fragen in verschiedenen Formulierungen gestellt, um festzustellen, ob die Befragte dieselbe Antwort gibt oder ob Widersprüche auftauchen. Diese Art der Befragung gibt einem das Gefühl, nicht die Wahrheit erzählt zu haben. Der Befragte fühlt den Druck sich beweisen zu müssen. Viele verlieren bei den Anhörungen die Nerven und brechen in Tränen aus. Das Warten auf die Anhörung und den Asylentscheid bringt die Menschen im Asylverfahren in einen Zustand der Ohnmacht, weil sie in Strukturen gefangen sind, die sie selber nicht beeinflussen können.
Nach dem EVZ werden die Asylsuchenden den Kantonen zugeteilt. Die Betreuung der Asylsuchenden können von den Kantonen, Gemeinden oder von anderen Zuständigkeiten wie Hilfswerken oder Privatfirmen geleistet werden. Die Fremdbestimmtheit des Alltags wird hier weitergeführt.
Vor drei Jahren traf ich bei einer Übersetzungstätigkeit ein Paar, welches sich noch im Asylverfahren befand. Sie kamen nicht gleichzeitig in die Schweiz und wurden in separate Kantone zugewiesen. Sie beantragten die Familienzusammenführung, welche aber negativ entschieden wurde. Das SEM (Staatssekretariat für Migration) befand ihre Beziehung für nicht glaubhaft. Das Paar legte Beschwerde ein. Die Frau war in dieser Phase schwanger. Der Prozess zur Familienzusammenführung dauerte sehr lange und unterdessen kam das Kind zur Welt. Die Frau besuchte mit ihrem gemeinsamen Kind ihren Mann. Er wohnte zu dieser Zeit in einer Wohngemeinschaft mit anderen Asylsuchenden. Eines Tages drang die Polizei in die Wohnung ein und wies die Frau und das Kind aus. Weil im Mietvertrag festgehalten sei, dass die Anwohner keine Besucher zum Übernachten haben dürfen, auch wenn diese Familienmitglieder seien. Das Personal drohte ihm, dass es seinen Asylentscheid beeinflussen könne, wenn er gegen die Regeln verstosse. Im Durchgangszentrum, in welchem seine Frau wohnte, lief es nicht anders. Auch er durfte dort nicht zu Besuch kommen. Das Paar litt lange Zeit unter diesem Zustand der Trennung, bis die Familienzusammenführung durch einen DNA-Vaterschaftstest bestätigt wurde. In diesem Fall zeigt sich die Sozialkontrolle in der Fremdbestimmtheit des Alltags und in den institutionellen Verordnungen.
Asylsuchende haben Anspruch auf Asylsozialhilfe. Diese weicht stark von der gewöhnlichen Sozialhilfe ab und die Beiträge liegen unter dem Existenzminimum. Da der Asylentscheid jahrelang dauert, leben viele unter prekären Bedingungen. Die Geldknappheit beschränkt ihre Bewegungsfreiheit und ihre soziale Teilhabe. Sanktionen werden meistens durch Abzug des Geldes umgesetzt. Oft werden solche Sanktionen angeordnet, wenn Asylsuchende seitens der zuständigen Betreuung nicht als integrationswillig und kooperativ wahrgenommen werden.
Die alten Formen der Sozialkontrolle basieren mehrheitlich auf dem Ausschluss. Der Ausschluss betrifft zum Beispiel den ersten Arbeitsmarkt. Denn die Erwerbsarbeit für Asylsuchende ist mit sehr starken Auflagen verbunden. Gleichzeitig werden Mechanismen geschaffen, die die Asylsuchenden in prekären und ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen halten.
Eine andere Art von Ausschluss betrifft das soziale Leben aufgrund im ganzen Land verteilter Unterkünfte. Da man in dieser Zeit nur Asylsozialhilfe erhält, kann man sich selber kein Reise-Abonnement leisten, sodass Bekannten- und Familienbesuche nur schwer zustande kommen. Dadurch wird man in eine systematische Einsamkeit gedrängt. In einem Workshop für UMAs (unbegleitete minderjährige Asylsuchende) traf ich eine junge Frau. Sie erzählte, sie wohne in einem sehr abgelegenen Dorf. Dort fühlen sie sich wie in einem Gefängnis. Sie sehen niemanden und können nicht in die Stadt fahren, weil die Reisekosten höher sind, als das Geld, das sie wöchentlich bekommen. Sie müssen jeden Tag eine Präsenzliste unterschreiben. Die junge Frau sagte, dass sie alle Vorschriften vom Chef akzeptiere weil sie fürchte, dass er sie sonst als Bestrafung in ein Heim senden könnte, das noch abgelegener liegt.
Der Ausschluss durch die Platzierung in abgelegene Unterkünfte ist von der Öffentlichkeit auf den ersten Blick nicht als solcher erkennbar. Deshalb zieht diese Praxis nur wenig Kritik nach sich. Aber es gab auch direkten und sichtbaren Ausschluss: Beim Definieren von sensiblen Zonen und bei Zugangsverboten für Asylsuchende wie das in Bremgarten im Aargau und in der Luzerner Gemeinde Meggen in den letzten Jahren vorkam.
Eine andere Art der Sozialkontrolle zeigt sich in kolonialistischen Denkweisen. In Luzern wurden 2016 Flyers mit Benimmregeln für Asylsuchende verteilt. Solche Benimmregeln differenzieren zwischen gesellschaftlichen Gruppen: zwischen der Wir-Gesellschaft und den Anderen. Die Anderen sind diejenigen, die in Geschlechterfragen und im Demokratieverständnis nicht so weit zivilisiert sind wie die Einheimischen. Ich interpretiere solche Arten der Handlungsvorschriften als unsichtbare koloniale Strukturen des Denkens. Diese bilden eine Hierarchie zwischen kulturell-ethnischen Zugehörigkeiten, als ob das Problem nicht das Patriarchat an sich, sondern kulturelle Zugehörigkeit wäre. Das kolonialistische Denken normalisiert die Disziplinierung und Kontrolle der Asylsuchenden.
Asylsuchende sind oft im Visier der Polizei und werden als Verdächtige wahrgenommen. In der letzten Zeit geschehene Terrorangriffe, die Berichterstattungen der Medien und rechtkonservative Diskurse stellen die Asylsuchenden als Risiko dar. Asylsuchende werden öfters von der Polizei angehalten als Einheimische. Den Grund dafür könnte man mit Verdacht auf illegalen Aufenthalt erklären. Aber weitere Gründe sind Polizeikultur und Kriterien wie racial profiling.
Es soll ein Umdenken stattfinden. Die Asylpolitik und deren Strukturen und Mechanismen sollen menschenwürdig organisiert werden. Es soll bessere Unterkunftsmöglichkeiten geben. Und anstatt Kontrolle und Disziplinierung sollen persönliche Freiheit, Entwicklung und Selbständigkeit gefördert werden.[:]