„Am Anfang war alles sehr gut“. So beginnt die Geschichte von Sahiba, die ich in einem Restaurant in Sarajevo kennengelernt habe. „Wir waren glücklich, unsere Eltern überglücklich. Ein Jahr nach unserer Hochzeit, schenkte Gott uns ein Kind. Unser Sohn! Er lachte und strahlte wie die Sonne im April. Schnell jedoch kamen graue Wolken in unser Leben. Mein Mann begann zu trinken. Er schlug mich und das Kind – jeden Tag. Eines Nachts kam er betrunken nach Hause, eine Pistole in der Hand. Er ging in das WC, ich nahm mein Kind und lief so schnell ich konnte durch die dunklen Strassen zu meinen Eltern. Es war Mitternacht, mein Vater und meine Mutter waren schockiert, als sie hörten was geschehen war.
Später musste ich meinen Sohn an die Eltern meines Mannes abgeben, denn so ist es in unserer Kultur vorgeschrieben. Vor lauter Angst lebte ich versteckt bei meinen Nachbarn. Der Sohn unserer Nachbarn arbeitete in der Schweiz und nahm mich eines Tages mit dorthin. Ich habe dort 45 Jahre lang in einem Dorfrestaurant gearbeitet, viel gespart und damit immer meinen Sohn und meine Eltern in Sarajevo unterstützt. In meine Heimat konnte ich jedoch nie mehr zurück, da mein Mann geschworen hatte, dass er mich umbringen wird.
So lebte ich in ständiger Traurigkeit und fiel in Depression. Tagsüber war es besser, in der Nacht war es sehr schlimm und schmerzte mich sehr. Ich träumte fliegen zu können, wie ein Vogel zurück in meine Heimat. Dann jedoch begann in meiner Heimat der Krieg. Eines Tages bekam ich die Nachricht, dass meine Eltern und meine Schwester in einem Bunker getötet wurden. Meine Cousine sagte: „Sei nicht traurig, sie sind nicht massakriert worden…Sie starben einen leichten Tod durch eine Bombe.Ich weinte und betete für meinen Sohn. Dank Gott hat er überlebt.
Nach dem Krieg hat er studiert, ich habe ihm von meinem Ersparten ein schönes Auto gekauft und ein Haus bauen lassen. Ein wunderschönes Haus, so schön wie der Palast eines Königs. Auf der anderen Seite des Hauses habe ich ein weiteres, sehr kleines Zweizimmer-Haus für mich selbst bauen lassen. Nebenan und doch etwas um die Ecke, damit ich meinen Sohn nicht störe. Er fand eine Freundin und ich habe sie Beide in allen Lebenslagen unterstützt.
Eines Tages waren zu unserem Hausfest 67 Personen eingeladen. „67 – genausoviel wie du Jahre alt bist“, sagte mein Sohn und lachte. Plötzlich erschien, völlig ironischerweise, mein Mann, Hand in Hand mit einer anderen Frau in der Eingangstür. „Wer hat ihn eingeladen?“ fragte ich meinen Sohn. „Wer hat deinen Vater eingeladen?“ Mein Sohn schaute auf seine Frau. „Ich, ich…“, sagte die Frau meines Sohnes. Er war der 67. eingeladene Besucher.
Ich verlor meine Fassung, denn ich habe viel gelitten wegen ihm. Ausserdem hat alles seine Grenze. In Wut warf ich ihm alle Schuhe von den Besuchern an den Kopf. Er ging. Und auch ich ging. Ich nahm meine Tasche und kam hierher, in das Haus meiner Eltern. Hier werde ich nun für immer wohnen. Hier, zusammen mit meinen schönen und meinen schlimmen Erinnerungen. Manchmal, wenn ich Sehnsucht nach meinem Sohn habe, gehe ich und streichle heimlich seine Tür. So, wie ich seine Wangen gestreichelt habe, damals als er noch ein kleiner Bub war. Es gibt Menschen, die undankbar sind. Selbst dann, wenn du ihnen deine eigene Seele gibst“.
So erzählte mir Sahiba ihre Geschichte, während sie in ihrem Haus in Sarajevo Kaffee mit Milch kochte und sich ihre Tränen schnell mit zitternden Händen wegwischte. „Du bist willkommen mein Schatz“, sagte sie zu mir. „Wir trinken Kaffee und dann gehen wir spazieren, denn die Sonne strahlt gerade auf mein Dach und ich möchte dir Sarajevo zeigen. Ich habe viel Leid erlebt und viele Menschen verloren, doch diese Stadt leuchtet noch immer so, wie mein inneres Licht.“
Wir gingen gemeinsam mit vielen anderen Frauen in ein Restaurant. Fast jeden Tag spazierten wir gemeinsam, doch wir sprachen nur über gute Sachen. „So bleiben wir in Gedanken fern vom Krieg“, sagte Sahiba, als wir uns am Flughafen verabschiedeten.