Abgewiesene Asylsuchende sind diejenigen, die in der Schweiz keine Aufenthalts- bewilligung erhalten haben und deshalb die Schweiz schnell verlassen müssen. Aus diesem Grund werden sie in Nothilfezentren verlegt, die über keine Einrichtungen eines normalen Lebens verfügen und nur für einen Aufenthalt von wenigen Tagen vorgesehen sind. Aber verlassen diese Leute die Schweiz wirklich in ein paar Tagen? Die Erfahrung hat gezeigt: Nein.
Tatsächlich ist ihr Leben aufgrund politischer, sexueller oder religiöser Probleme in ihrer Heimat in Gefahr oder wegen Armut, Arbeitslosigkeit, Krieg und anderen Belastungen ist ein Leben in ihrem Land schwierig oder gar unmöglich. Sie bleiben unter miserablen Bedingungen in den Rückkehrzentren, weil dort zumindest ihr Leben nicht in Gefahr ist und sie wenigstens ein Stück Brot zu essen bekommen.
Einige von ihnen leben dort viele Jahre. Es ist eine Art Überleben, bei dem es keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft und ein besseres Leben gibt. Die Tage und Nächte, ja sogar die Jahreszeiten vergehen ohne klare Perspektive und Planung für ein besseres Morgen. Und diese absolute Dunkelheit, die das Leben überschattet, hat irreparable Folgen für die Seelen dieser unglücklichen Menschen und führt sie in tiefe Depressionen. Das Ergebnis ist, dass weder das Schweizer Asylsystem noch die in dieser Situation lebenden Menschen im Geringsten profitieren.
Urs Ruckstuhl, Dr. phil., Psychologe, hat eine Studie zu den psychischen Folgen des Nothilferegimes für abgewiesene Asylsuchende gemacht. Hier könnt ihr das Interview von Lucify mit ihm über seine Studie lesen:
Lucify: Kannst du dich bitte kurz vorstellen?
Urs Ruckstuhl: Ich bin Urs Ruckstuhl, habe Psychologie an der Uni Zürich studiert und mich zum Psychotherapeuten ausgebildet. Am Schluss meiner beruflichen Laufbahn war ich Dozent und Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich, zuletzt vor allem verantwortlich für Fragen der Prävention und Gesundheitsförderung in Schulen. Seit 2015 bin ich pensioniert. Gleich zu Beginn meiner Pensionierung bin ich zweimal auf den Balkan gereist und habe auf der Flüchtlingsroute Einsätze geleistet. Seit dieser Erfahrung bin ich in Zürich in verschiedenen Flüchtlingsprojekten aktiv. Zurzeit beschäftige ich mich wieder mit den gesundheitlichen Problemen der abgewiesenen Geflüchteten.
Lucify: Von wem und welcher Organisation wurde die Studie umgesetzt? und mit welchem Ziel?
Urs Ruckstuhl: Hinter der Studie steht keine Organisation. Ich habe 2019 eine Tagung der Aktivistengruppe aus Zürich Wo Unrecht zu Recht wird besucht und dort gehört, unter welchen Bedingungen abgewiesene Asylsuchende in den Notunterkünften leben. Ich wollte mir ein eigenes Bild von den Verhältnissen machen und habe mit einer Besuchsgruppe die Notunterkunft in Urdorf – ein unterirdischer Bunker mit 50-60 abgewiesenen Männern, viele davon auf dieses Dorf eingegrenzt – ein paarmal besucht. Ich war fassungslos zu sehen, dass abgewiesene Geflüchtete in unserem Land so ihr Leben fristen müssen. Als Psychologe hatte ich mich an der Hochschule mit den Lebensbedingungen befasst, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen gesund bleiben oder krank werden. Nun fand ich in den Notunterkünften eine geballte Ansammlung von Lebensbedingungen vor, die dazu führen, dass die Widerstandskraft der abgewiesenen Geflüchteten gebrochen und die Entwicklung von psychischen Beschwerden gefördert werden. Es war für mich sofort klar, dass ich, nunmehr pensioniert, mein Wissen nicht einfach in den Schubladen meines Kopfes verschwinden lasse, sondern die beobachteten Verhältnisse in den Notunterkünften und die subjektiven Erfahrungen der Betroffenen dokumentieren, bestehende und aktuelle Studien zum psychischen Zustand von Geflüchteten zusammenstellen und die wissenschaftlichen Modelle, die die Entwicklung psychischen Leidens aus diesen Verhältnissen heraus zu erklären versuchen, in einem Bericht erfassen möchte.
Ziel dieses Unterfangens war es, erstens den Betroffenen, NGO’s und Asylorganisationen in ihren Auseinandersetzungen ein fundierteres Wissen und überzeugendere Argumente für eine Humanisierung des Nothilferegimes zur Verfügung zu stellen, zweitens das Leiden einer in unserer Gesellschaft verborgenen Gruppe von Geflüchteten zu enttabuisieren und allen Verantwortungsträgern und auch einer breiteren Öffentlichkeit bewusst zu machen.
Lucify: Was sind die Ergebnisse der Studie?
Urs Ruckstuhl: Der *Bericht enthält verschiedene Teile und behandelt verschiedene Fragen:
Zunächst werden die Situation und die Lebensbedingungen, d.h. die materiellen, sozialen, rechtlichen, kulturellen, medizinischen Verhältnisse, präzise geschildert und dargestellt. Allein aus der Rekonstruktion dieser Verhältnisse – ein Gemisch aus Verboten, Einschränkungen, Deprivationen, Zwangsmassnahmen – liest sich klar Ziel und Absicht des Nothilferegimes ab: Durch absolute Armut, Isolation, Reduktion aller Verwirklichungschancen auf praktisch Null sollen die abgewiesenen Geflüchteten zermürbt und zur Ausreise bewogen werden. Es sind die grossen Hindernisse wie extreme Armut, unwürdige kollektive Unterbringungsformen, die keine Rückzugsmöglichkeiten und Intimität erlauben, das Beschäftigungsverbot, die Behinderung von Zugehörigkeitserfahrungen, die zu Vereinsamung und Gefühlen der Sinn- und Hoffnungslosigkeit führen. Als Folge davon beobachten wir eine tiefgehende psychische Zermürbung und das Risiko der Entwicklung ernsthafter psychischer Störungen.
Zweitens werden die im Nothilferegime vorgefundenen Lebensbedingungen dann mit den Risikofaktoren, die nach der Migration im Aufnahmeland auftauchen, in Bezug gesetzt. Es zeigt sich, dass eine grosse Anzahl von zermürbenden, destabilisierenden Faktoren auf die Menschen im Nothilferegime wirken und dass zusätzlich die Lebensumstände der Abgewiesenen von unterstützenden, die psychische Gesundheit schützenden Faktoren regelrecht gesäubert werden.
Schliesslich werden verschiedene Modelle aus der Stressforschung, aus der Sozial-, Entwicklungs- und Gesundheitspsychologie herangezogen, die den Zusammenhang von ungünstigen strukturellen und sozialen Lebensverhältnissen und negativen psychischen Folgen nachweisen. So führt z.B. nicht nur eine Häufung von belastenden Faktoren oder Stressoren zu chronischen Spannungszuständen, es ist vielmehr die Erfahrung, dass ein Mensch nichts gegen diese Belastungen unternehmen kann, dass er ihnen ausgeliefert ist und dass er in seinem Ohnmachtserleben schliesslich dauerhaft seine Tatkraft verliert und in seiner Lebenszuversicht geschwächt wird. Dabei wirken sich die alltäglichen Widrigkeiten genauso schädlich aus wie wiederholte grosse Enttäuschungen und Niederlagen. Mehr noch: Durch die vielen Hürden, radikalen Einschränkungen und Verbote, das Ausbleiben jeder Anerkennung durch verhinderte soziale Teilnahme nimmt mit der Zeit auch die Selbstachtung und der Selbstwert Schaden. Und Angriffe auf den Selbstwert, die sich wiederum in Selbstzweifeln, Sinn- und Identitätskrisen spiegeln, führen zu hochgradigem Stress. All dies führt oft zu Resignation, Niedergeschlagenheit, Ängsten und Depressionen, mitunter auch zu Aggressivität, Suchtverhalten und psychosomatischen Symptomen.
Ausführlich wird im Bericht sodann eine aktuelle Studie von Fabienne Davallou (2018) zum Zusammenhang zwischen Nothilfesystem und Gesundheitszustand von abgewiesenen Asylsuchenden dargestellt.
Ein weiteres Kapitel setzt sich mit traumatisierenden Erlebnissen der Flucht und den erneut traumatisierenden Erfahrungen und ihren Auswirkungen im Nothilferegime auseinander.
Lucify: Zu welchen Ergebnissen kommt die Studie von Davallou?
Urs Ruckstuhl: Die Studie zeigt, dass der Gesundheitszustand von fast allen Befragten als schlecht beurteilt wird. Je nach Untergruppe leiden zwei Drittel an einer vollständig ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung, zwischen zwei Drittel bis 80% an Angststörungen sowie zwischen 80-90% an depressiven Verstimmungen. Ein Drittel aller Befragten hat Selbstmordgedanken. Insgesamt leiden drei Viertel aller Befragten an zwei oder an allen drei der untersuchten psychischen Beschwerden. Ausserdem geben knapp 80% der Befragten an, dass sie auch an starken körperlichen Beschwerden leiden. Allerdings konnte nicht nachgewesen werden, dass Abgewiesene, die sich länger im Notfallsystem aufhalten, auch schwerere Beschwerden aufweisen.
Lucify: Sind diese Befunde spezifisch für abgewiesene Asylsuchende?
Urs Ruckstuhl: Nur bedingt. Die Migrationsforschung zeigt, dass bei allen Asylsuchenden weltweit aufgrund der Erfahrungen vor und während der Flucht und in der unsicheren Situation des Asylprozesses hohe Raten an Posttraumatischen Belastungsstörungen (20-70%) sowie Angststörungen und Depressionen (30-70%) festgestellt werden können. So leiden auch in der Schweiz je nach Studie zwischen 30-85% der Asylsuchenden und vorläufig Aufgenommenen an Depressionen, rund zwei Drittel an Angststörungen und 22-75% an einer ausgeprägten oder mildern Form von Posttraumatischer Belastungsstörung. Dieses Bild dürfte sich in den meisten Ländern mit einer geringen Aufnahmefreundlichkeit und einem defensiven Integrationswillen bestätigen. Natürlich kann man nicht alle psychischen Folgen der Flucht den Aufnahmegesellschaften anhängen. Die Frage, welchen Anteil die Erfahrungen vor, während und nach der Flucht an den Ursachen für die psychischen und körperlichen Leiden der Geflüchteten haben, ist aus methodischen Gründen äusserst schwer oder gar nicht auszumachen. Das Verhalten der Aufnahmegesellschaft entscheidet aber darüber, ob sich eine geflüchtete Person geschützt und über soziale Teilnahme (Recht auf Ausbildung, Beschäftigung, kulturellen Tätigkeiten) angenommen und wertgeschätzt fühlt und wie stark sich geflüchtete Menschen stabilisieren und ihre psychischen Wunden heilen können. Die verschiedenen Status-Kategorien von Geflüchteten (anerkannte Flüchtlinge, vorläufig Aufgenommene, Abgewiesene) beinhalten unterschiedliche Rechte und Chancen, am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben. Wir wissen, dass es auch für vorläufig Aufgenommene viele Hindernisse und Schwierigkeiten gibt. Abgewiesene haben aber überhaupt keine Rechte und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist auf das Überlebensniveau reduziert. Aber auch unter den abgewiesenen Personen gibt es grosse Unterschiede. Es gibt Menschen, die schon sehr gebrochen in unser Land einreisen und dann im Nothilferegime schnell in Passivität verfallen, verzweifeln und schliesslich aufgeben. Andere kämpfen, vernetzen sich, suchen Verbündete, finden jede noch so kleine Nische und Ressource, die sie nutzen und zu einer einigermassen erträglichen Lebenssituation ausbauen können.
Lucify: Welche Rolle spielt das Schweizer Asylsystem bei der Entstehung und Verschlechterung der psychischen Beschwerden von abgewiesenen Asylsuchenden?
Urs Ruckstuhl: Wie schon ausgeführt, ist es schwierig festzustellen, in welchem gesundheitlichen Zustand Geflüchtete sich zu Beginn des Asylgesuches befinden. Dies wird nur äusserst rudimentär erhoben (Infektionen, körperliche Verletzungen). Aber man muss eindeutig festhalten, dass die eingangs geschilderten psychosozialen Lebensbedingungen im Notfallregime so angelegt sind, dass sich die Gesundheit vulnerabler, d.h. verletzlicher Personen zwangsläufig verschlechtert. Sie bilden den Vorhof für ernsthaftere psychiatrische Krankheiten. Wie hoch die Anzahl von Psychosen, schweren Depressionen und Angststörungen von klinischem Belang ist und wie sehr psychische Zusammenbrüche über Psychopharmaka unter dem Deckel gehalten werden, ist leider nicht bekannt. Nach meiner Einschätzung nehmen aber auch stabile und gesunde Abgewiesene, wenn sie über Jahre unter den Bedingungen des Nothilferegimes leben müssen, psychischen Schaden.
Lucify: Bekommen abgewiesene Asylsuchende Unterstützung? Haben sie Zugang zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen?
Urs Ruckstuhl: Für abgewiesene Asylsuchende sind psychotherapeutische Behandlungen nicht vorgesehen, u.a. auch deshalb, weil längere Behandlungen ja aufgrund des abschlägigen Asylentscheids nicht in Frage kommen und weil das Geld für Dolmetschende nicht gesprochen wird. Der Konsum von Medikamenten, vor allem Psychopharmaka, Beruhigungs- und Schlaftabletten, ist in den Notunterkünften sehr hoch. Mittlerweile hält sich an bestimmten Tagen medizinisch geschultes Personal in den Notunterkünften auf. Dieses schickt die Patient*innen bei Bedarf zu Asyl*ärztinnen. Letztere können Abgewiesene in akuten Fällen zu Psychiater*innen weiterleiten. Mitunter schlägt dann der/die Psychiater*in einen angemessenen Behandlungsplan vor, der Gespräche, eine Tagesstruktur und eine Beschäftigung vorsieht. Doch da keiner dieser Vorschläge verwirklicht werden kann, bleibt es dann meist bei der medikamentösen Symptombehandlung. Manchmal ist auch eine psychiatrische Hospitalisierung eine Chance, da im Glücksfall von der Klinik aus eine ernsthafte Nachbehandlung organisiert wird.
Lucify: Was muss im Asylsystem verändert werden?
Urs Ruckstuhl: Ich habe die unmenschlichen und krankmachenden Lebensbedingungen im Nothilferegime schon mehrfach erwähnt. Sie sind es, die den Vorhof bilden für die Entwicklung von schweren psychischen Störungen. Sie sind es, die Schritt für Schritt den fünf Bedingungen angeglichen werden müssen, welche Forscher wie Silove (2013) als für Geflüchtete beschützend, stabilisierend und heilsam beschrieben haben: 1. sichere, vorhersehbare Lebensbedingungen; 2. verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen; 3. ein soziales Klima, in dem abgewiesene Asylsuchende Anerkennung, Würde, Respekt und Ermutigung erfahren; 4. Teilhabe an allen wichtigen gesellschaftlichen Prozessen wie Beschäftigung, Bildung, Freizeit; 5. gesellschaftliche und kulturelle Offenheit der Aufnahmegesellschaft den Geflüchteten gegenüber. Sind diese Faktoren für alle abgewiesenen Geflüchteten Voraussetzung, um gesund zu bleiben und für die Dauer des Aufenthaltes in der Schweiz ein menschenwürdiges Leben führen zu können, so sind sie für Kinder, Jugendliche und ihre Familien geradezu prägend und vital für eine gesunde seelische Entwicklung.
Etwas konkreter bedeutet dies u.a.: 1. Deckung des Grundbedarfs statt Nothilfe; 2. Schliessung der lagerartigen Notunterkünfte und eine menschenwürdige Unterbringung in Wohnungen und Wohngemeinschaften; 3. Verzicht auf willkürliche Verhaftungen und Rayon-Eingrenzungen; 4. Recht auf Bildung (Deutschkurse, berufsqualifizierende Kurse), Beschäftigung und Tagesstruktur, Zugang zu kulturellen Angeboten usw.; 5. Zugang zu medizinischer und psychotherapeutischen Versorgung; 6. kinderrechtskonforme Bedingungen für abgewiesene Familien und Kinder; 7. Regularisierung des Aufenthaltes von abgewiesenen Geflüchteten, die seit Jahren im Nothilferegime gefangen sind.
Lucify: Welche Pflicht hat die Politik und das Asylsystem der Schweiz?
Urs Ruckstuhl: Das schweizerische Asylsystem hat m.E. die Pflicht, die Menschenrechte auch für abgewiesene Asylsuchende in unserem Land konsequent durchzusetzen, d.h. u.a. das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Hilfe und Unterstützung), das Recht auf Arbeit, Bildung, Zugang zum kulturellen Leben usw. Auch der internationale Sozialpakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Pakt) der Vereinten Nationen, von der Schweiz ratifiziert, garantiert und bekräftigt noch einmal die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechte aller Menschen. Die Schweiz wehrt sich allerdings gegen die gerichtliche Einklagbarkeit dieser Rechte.
Da die Schweiz die abgewiesenen Asylsuchenden als Illegale betrachtet, behandelt sie sie quasi als Menschen, die keine Rechte haben und reduziert ihre Unterstützung auf das Überlebensniveau. Dies betrachte ich für ein reiches Land wie die Schweiz als beschämend und absolut unzureichend.
Lucify: Vielen Dank für das Interview.
*Den Bericht Das Nothilfesystem für abgewiesene Asylsuchende – ein Bericht zu den psychischen Gesundheitsfolgen finden Sie unter:
www.wo-unrecht-zu-recht-wird.ch/images/content/DieNotunterknftefrabgewieseneAsylsuchende.pdf