Spätestens seit den Anklagen gegen Harvey Weinstein vor einigen Jahren, als die #MeToo-Bewegung in Gang gesetzt wurde, wurde das Thema der (Un-) Gleichstellung der Geschlechter in der Filmindustrie unumgänglich.
Es ist eine weit bekannte Tatsache, dass Frauen auf allen Ebenen dieser Branche deutlich unterrepräsentiert sind. Weniger Frauen sind Regisseurinnen oder besetzen hohe kreative Positionen. Ausserdem ist meistens das Budget von Regisseurinnen geringer. Laut einer Studie von Le Collectif 50/50 sind nur 23% der zwischen 2006-2016 gedrehten Filme unter der Regie von Frauen.
In dem Bestreben, auf eine Parität der Geschlechter hinzuarbeiten, hat das Schwedische Filminstitut bei den Film Festival von Cannes 2016 die Initiative „Fiftyfifty by 2020“ vorgestellt, mit dem Ziel einer Gleichstellung bei der Verteilung der Filmförderungsgelder bis 2020. Inspiriert durch diese Initiative entstanden in den letzten Jahren viele weitere nationale und internationale Kampagnen, um das Bewusstsein für die Gleichberechtigung zu schärfen.
Eines der bekanntesten Projekte ist die 2018 gestartete Kampagne 5050×2020 von Le Collectif 50/50. Diese Kampagne rief Filmfestivals dazu auf, Abmachungen zu unterschreiben, mit dem Ziel bis 2020 eine Geschlechterparität im Filmbusiness zu erreichen.
Mit dieser Abmachung müssen die Festivalorganisator*innen, Statistiken über Geschlecht und Herkunft der Regisseure*innen aller eingereichten Filme erstellen und Geschlecht und Herkunft aller Mitglieder der Auswahlkommissionen, der Programmverantwortlichen und des Vorstands veröffentlichen. Ebenso verpflichten sie sich zu einem Zeitplan, um eine gleichgestellte Besetzung der Führungsstellen zu erreichen.
Inzwischen haben die meisten internationalen Filmfestivals u.a. Cannes, Berlin, Locarno, Venedig Toronto das Versprechen unterzeichnet. Aber ob diese Abmachungen auch eingehalten werden? Wir befinden uns jetzt im Jahr 2020. Haben wir die Geschlechter-Gleichstellung in der Filmindustrie bereits erreicht – oder stehen wir kurz davor?
Wir sprachen mit Stéphane Mitchell, Co-Präsident und einer der Gründer*innen des Schweizerischen Netzwerks für audiovisuelle Frauen (SWAN), um über die Situation der Schweizer Filmindustrie zu sprechen. SWAN hat sich stark eingesetzt, dass führende Filmfestivals in der Schweiz die Abmachung für Gleichstellung und Inklusion unterzeichnen.
Dieses Interview wurde geführt, bevor aufgrund von COVID-19 die Filmfestivals auf der ganzen Welt abgesagt wurden.
Lucify.ch: Gibt es eine Gleichstellung der Geschlechter in der Schweizer Filmbranche?
SWAN: Eine nationale Studie des Verbandes Schweizerischer Filmregisseure ARF/FDS, der Stiftung Weiterbildung Film und Audiovision FOCAL und des Dachverbandes Cinesuisse kam 2015 zu dem Schluss, dass Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen in der öffentlichen Schweizer Filmförderung stark diskriminiert werden.
Im Jahr 2013 wurden nur 20 % der geförderten Filme von Frauen gedreht, wobei sie nur 17 % der insgesamt zugewiesenen Fördergelder erhielten.
2016 entschied sich das Bundesamt für Kultur BAK für ein Geschlechterkriterium zur Förderung von Filmemacherinnen und 2019 ist der Anteil der geförderten Spielfilme unter der Regie von Frauen auf 36% gestiegen, sie erhielten 38% der zugewiesenen Gelder. Eine gravierende Verbesserung!
Die Geschlechter-Ungleichheit wirkt sich aber auch auf die Besetzung und die Crew aus (Frauen sind immer noch in der Minderheit und meist in niedrigen Positionen – allerdings gibt es keine offizielle Daten) sowie auf die Schweizer Filmakademie, wo Frauen nur 34% der Stimmberechtigten ausmachen.
Lucify.ch: Welche Schweizer Film Festivals haben den 5050×2020 Pakt unterschrieben?
SWAN: Das Locarno Film Festival, die Solothurner Filmtage, das Fribourg International Film Festival, Visions du réel, Neuchâtel International Fantastic Film Festival, Zurich Film Festival und Shnit – Worldwide haben die Abmachungen unterschrieben. Alle vom Bundesamt für Kultur geförderten Festivals müssen nun auch geschlechtsspezifische Daten über die Filmeinreichung, -bewertung und -auswahl sammeln, selbst diejenigen, die die Abmachung nicht unterzeichnet haben.
Lucify.ch: Wir befinden uns jetzt im Jahr 2020. Gibt es Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter bei den Filmfestivals (europäische und insbesondere schweizerische), die die Abmachung bereits unterzeichnet haben? Werden die Versprechen eingehalten? Haben wir bei den Filmfestivals das Geschlechter-Verhältnis von 50:50 erreicht – oder stehen wir kurz davor?
SWAN: Das Versprechen ist eine Verpflichtung zur Gleichstellung der Geschlechter. Es fordert Transparenz und eine Parität in den Führungspositionen und den Auswahlkomitees sowie die Erhebung geschlechtsspezifischer Daten bei der Einreichung, Prüfung und Auswahl von Filmen. Bisher haben die Schweizer Festivals, die das Versprechen vor einem Jahr unterzeichnet haben (Locarno, Solothurn), ihre Verpflichtung zu Transparenz und Parität sowie zur Datenerhebung eingehalten.
Die anderen Festivals haben noch nicht stattgefunden (das FIFF wurde gerade abgesagt), daher ist eine Aussage noch unmöglich. Aber SWAN vertraut darauf, dass sie ihre Abmachungen einhalten. Es ist wichtig, zu verstehen, dass es sich um Verpflichtungen und nicht um eine Quote handelt. Die Zahl der ausgewählten Filme in Locarno und Solothurn, bei denen Frauen Regie führen, ist gegenüber den Vorjahren gestiegen, wir sind aber noch nicht bei einer Gleichstellung 50/50 angekommen.
SWAN findet, dass die Abmachungen ein erstaunliches Sensibilisierungs- und Überwachungsinstrument darstellt. Andere Schritte sind ergänzend und notwendig innerhalb und ausserhalb der Festivals, um die Geschlecht-Gleichberechtigung und Diversität zu erreichen.