Ein Besuch bei den Geistern der Frauenbewegung

Archiv Gosteli
eingang

Lucify.ch wurde zum Besuch in der Gosteli-Stiftung eingeladen, dem Archiv, das die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung bewahrt. An diesem einzigartigen Ort, ruhig gelegen auf einem Hügel in Worblaufen bei Bern, begleitet mich Simona Isler, die Co-Leiterin des Archivs, auf einer Reise durch die Räume, in denen jedes Dokument und Bild von den Kämpfen für die Rechte der Frauen in der Schweiz erzählt. Dieser persönliche Bericht führt in eine Vergangenheit, die die Bedeutung einer inklusiven Geschichtserzählung offenbart, in der die Stimmen aller Frauen, auch der Migrantinnen, endlich ihren Platz finden.

An einem nebligen Freitag mache ich mich auf den Weg. Nur vier Minuten mit dem Regionalzug von Bern bringen mich nach Worblaufen, wo auf einem kleinen Hügel, vollständig von Privathäusern ohne Durchgang umgeben, das charmante Gebäude der Gosteli-Stiftung steht.

Halb Stufen, halb Rampe, die Gosteli-Treppe, die auf den Hügelgipfel führt, ist ein Sinnbild der gleichberechtigten Zugänglichkeit und lässt gut hoffen. Eine solche Treppe habe ich sonst nirgends gesehen.

Oben angekommen, muss ich noch eine Pferdeanlage durchqueren. Auf der einen Seite liegt eine grosse eingezäunte Wiese, auf der anderen Seite ein sehr langer Stall. Dieser ist verschlossen, aber ein Schild weist darauf hin, dass man den Zugang frei lassen soll. Pferde sind nirgendwo zu sehen. Später erfahre ich, dass dieser Stall ein Teil des Archivs ist und heute alles Filmmaterial (Rollen etc.) hier gelagert wird.

Schliesslich erreiche ich die Villa. Sie hat einen mitteleuropäischen, städtischen Stil des 19. Jahrhunderts, der in dieser ländlichen Umgebung überrascht. Ein perfekter englischer Rasen verstärkt das Gefühl, in einem zeitlosen Raum gelandet zu sein.

In meinem Kopf wiederholt sich der Name Gosteli und ich kann nur an Ghost, Geist, Fantasma denken. Hier spüre ich die Geschichte und die vielen Leben, die nicht mehr sind, aber eine Spur hinterlassen haben, die in diesem Archiv sorgfältig aufbewahrt wird. Hier sind Tausende von Stimmen und Bildern von toten Frauen auf Papier oder Tonband gesammelt und aufbereitet, um auf die Fragen der Lebenden zu antworten.

Um an der Tür zu klingeln, muss man keinen Knopf drücken, sondern eine lange Metallstange ziehen, ich fühle mich wie in einer anderen Welt. Klingeln und Eintreten steht von Hand geschrieben, das mache ich auch.

Drinnen ist alles wieder normal. Ich sehe sofort ein Büro mit Computer und eine Küche mit Kaffeemaschine. Eine junge Frau empfängt mich und zeigt mir, wo Garderobe und Toilette sind. Das übernatürliche Gefühl ist verschwunden. Ein Foto von Marthe Gosteli aus der Bibliothek blickt mich an, aber statt an Geister, denke ich diesmal an Wikipedia, wo ich das gleiche Foto vorhin im Zug gesehen habe. Sie wohnte Anfang des letzten Jahrhunderts auf diesem Hügel, der ihrer Familie gehörte, und erst am Ende ihres Lebens, etwa ab den 80er Jahren gründetet sie das Archiv in diesem Haus. Das erzählt mir Simona Isler, die Co-Leiterin des Archivs, die mich heute als Repräsentantin von Lucify.ch hierher eingeladen hat.

Die promovierten Historikerinnen Simona Isler (links) und Lina Gafner (rechts) sind Co-Leiterinnen der Gosteli-Stiftung

Archiv und Inspiration der Frauenbewegung

Die Gosteli-Stiftung sammelt Dokumente von Frauenorganisationen und Frauenverbänden (wie dem Bund Schweizerischer Frauenvereine oder der Frauenbefreiungsbewegung) und ist besser bekannt als Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung. Sie haben wenig über Migrantinnen, erzählt mir Simona, und sind daran interessiert, die Dokumente des Kollektivs Lucify.ch zu übernehmen. Aktive Akquisition sei zeitaufwendig, deshalb freue sie sich über meinen Besuch.

Freundlicherweise nimmt sie sich trotzdem Zeit für eine Führung durch das Haus: zwei Bibliotheksräume, die seit dem Gründungsjahr 1982 auch dank der Publikationen von Autorinnen, die bei ihnen recherchiert haben, stetig gewachsen sind; drei grosse Archivräume mit Dokumenten von Frauenorganisationen oder einzelnen Frauen; Büros und Aufenthaltsräume. Ich bin beeindruckt von den vielen Ordnern mit der Aufschrift Feller. Simona erklärt mir, dass es sich um Dokumente von Elisabeth Feller handelt, die 1931 die jüngste Unternehmerin der Schweizer Wirtschaftsgeschichte war. Sie leitete erfolgreich eine Steckdosenfabrik in Horgen und war Präsidentin von BPW International (Business and Professional Women), der weltweit grössten Organisation berufstätiger Frauen.

Ich denke an die Fernsehserie „Frieden“, geschrieben von Petra Volpe, und vor meinem geistigen Auge laufen schon Szenen über Frau Feller in diesem Stil ab. So eine Serie wäre toll zu sehen und den jungen Frauen zu zeigen. Mir wird klar, dass es hier noch viele Geschichten zu erzählen gibt. Später erfahre ich bei Wikipedia, dass Petra für den Film «Die göttliche Ordnung» sich hier dokumentiert hat. Aber Simona erzählt mir, dass sie kein Archiv von Italienerinnen haben. Also hat Petra hier nur einen Teil ihrer Drehbuchfiguren gefunden. Sicher hat sie die Geschichte von Graziella nicht hier gefunden. Jedoch wird diese italienische Frau im Film als Schlüssel für die Veränderung der Einstellung der Protagonistin dargestellt. Wie ich in diesem Artikel erzähle, zündet Graziella die Lunte der Revolte, als sie den anderen Frauen sagte, dass man in Italien «in den Streik tritt, wenn man etwas will».

Geschichte inklusiv erzählen

Ein Regal im Flur ist gefüllt mit Hochschularbeiten, darunter stehen unter anderem die Namen der Universitäten Bern, Genf, Basel. Hier wird die Geschichte der Schweiz erforscht und geschrieben. Dieses Archiv macht es möglich, dass die Arbeit der Frauen den Stellenwert erhält, den sie verdient. Umso wichtiger ist es, dass alle Frauengeschichten ihren Platz finden.

Simona erklärt mir, dass sie versuchen, nicht nur die Akten von Frauen der Oberschicht zu archivieren, die ihnen sowieso geschenkt werden, sondern auch von normalen Frauen, wie Bäuerinnen. Aber Tatsache ist, dass sie wenig Zeit zum Schreiben haben und noch weniger daran denken, ihre Akten aufzubewahren und ins Archiv zu geben. Für ein Archiv sind aber auch solche Zeitzeugnisse sehr wichtig. Sie zeigt mir zum Beispiel die Akte einer Frauenschule. Darin liegt ein dickes Notizbuch mit einem Deckblatt aus braunem Leder. Es ist ein kollektives Tagebuch, das sich ehemalige Absolventinnen gegenseitig schickten, um sich darüber zu informieren, was aus ihnen geworden war und wie sie jetzt lebten. Die Handschrift auf diesen vergilbten Seiten ist vielleicht nicht leicht zu entziffern, aber sie hat die Kraft der Realität und wirkt in einem Archiv wie ein Beweis für viel Theorie über die Frauengeschichte in der Schweiz. Hier zeigt sich in der Praxis, was der Slogan aus den siebziger Jahren „Das Private ist politisch“ bedeutet.

Mir wird bewusst, wie sehr unsere Vereinsarbeit von den bestehenden Strukturen und Netzwerken profitiert hat, die die Frauen vor uns geschaffen haben. Gleichzeitig denke ich an die vielen Beiträge von Migrantinnen, z.B. zur Gründung von Kindertagesstätten oder zur Öffnung des Zugangs zum Studium, die hier nicht dokumentiert sind. Meine Kollegin Mahtab Taemeh hat darüber in ihrem Beitrag wunderbar berichtet.

Simona Isler und ihr Team sind zum Glück davon überzeugt, dass auch Dokumente von Migrantinnen hierhergehören. „Wir freuen uns, wenn sich Frauen mit Migrationsgeschichte bei uns melden. Wir beraten sie gerne, damit auch ihre Geschichte archiviert und erforscht werden kann.“ sagt sie und das freut mich besonderes, da eine gleichberechtigte Gesellschaft für alle auch durch das Erzählen einer inklusiven Geschichte entsteht.

Ich denke an die Rede von Karmen Wayunkerra auf dem übererfüllten Bundesplatz beim Frauenstreik 2019. Sie hat alle Frauen zur Schwesternschaft aufgerufen, um gemeinsam für mehr Gleichberechtigung im Beruf, in der Familie, in der Politik, in den Medien, überall und für alle Frauen zu kämpfen.

Ja, es macht Sinn, dass die Akten der Arbeit von Lucify.ch eines Tages hier archiviert werden, da diese auch ein kleines Puzzleteil der Schweizer Geschichte sind.

Nach der Führung in der Gosteli Stiftung würde ich mir am liebsten jedes Dokument noch im Detail anschauen, aber ich fühle mich auch überwältigt von so viel Geschichte und Information. Zum Glück kann man den Archivkatalog online abfragen. Ich werde wieder kommen und bis dahin nicht vergessen, auch mein Leben zu dokumentieren.

Das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung ist historisch gewachsen. Es versucht heute Sammlungslücken aktiv anzugehen (z.B. französischsprachige Schweiz, Migrantinnen, Lesbenbewegung, Women of Color, Frauenstreik/feministischer Streik). Ihr Sammlungsprofil und Kriterien kann man hier lesen: https://www.gosteli-foundation.ch/de/gosteli-stiftung/aktuelles/strategie-und-sammlungsprofil 

Über Perla Ciommi

Perla ist Film- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Leidenschaft für die Filmproduktion begann 2000 in Bologna, Italien mit einem Videokurs. Als sie ein Jahr später einen Dokumentarfilm in Indien drehte, entschied sie für sich, dass dies ihr Weg sein wird. Seitdem dokumentierte sie mit ihrer Kamera unter anderem die Häuserbesetzerszene in Paris, die Community des Radio RaBe in Bern, die Lindy-Hop-Szene in der Schweiz und die politische Partizipation von Migrantinnen in der Schweiz. Nach einer Weiterbildung in Kommunikation hat sie sich auch dem Journalismus und der Kreation von Webinhalten gewidmet.

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