Im Oktober 2020 wollte einen Frauentreff organisieren, der nicht nur für Migrantinnen, sondern auch für Asylsuchende Frauen offen war. Dieses Zeichen der Solidarität war mir wichtig. Nach einem Gespräch mit der Asylkoordinatorin haben wir dafür einen Raum in der katholischen Kirche gefunden. Ich war sehr dankbar, dass jeder Schritt in Richtung meines Plans gut lief.
In dieser Zeit hatten sich die Folgen der Pandemie bereits weit ausgebreitet. Aufgrund von Corona mussten leider drei Termine annuliert werden, der vierte konnte schliesslich stattfinden. Die Türen für die separaten Räume in der Kirche waren geschlossen.
Ich telefonierte, da ich nicht wusste welcher Raum für uns geöffnet wurde, aber niemand war vor Ort. Ich ging deshalb mit den Frauen und Kindern in Richtung des Gebetsraumes, wo mir plötzlich eine Mitarbeiterin entgegen kam. Sie wunderte sich und sagte, dass die Tür für unseren geplanten Raum offen gewesen ist. Ich hatte jedoch nirgends einen Hinweis dafür gefunden und mich nicht getraut, die Türen einfach so zu öffnen.
An diesem Tag schneite es dicke Flocken, die beinahe wie kleine Pingpong-Bälle vom Himmel fielen. Meine Schultern schmerzten, da ich für die Teilnehmerinnen viele Wasserflaschen mitgenommen hatte. Aufgrund der Corona Bestimmungen die Küche in der Kirche nicht benutzt werden durfte. In Gottes Haus gibt es kein Wasser in Flaschen, deshalb hatte ich sie selbst mitbringen müssen.
In dieser Kirche habe ich damals, nach meiner Ankunft in der Schweiz, Deutsch gelernt und wir haben die Küche auch benutzen dürfen. Ich bemerke schnell, dass die meisten der Asylsuchenden nicht gut deutsch sprechen, aber wir Migrantinnen verstehen uns untereinander meistens problemlos. Wir haben alle zu Beginn dieselben Sprachschwierigkeiten. Wir tauschten uns über das Thema Corona aus und ich verteilte farbige Karten mit Bildern und Symbolen.
Frau L. nahm daraus eine Karte mit Kerzen. Auf meine Frage, warum sie diese Karte auswählte, ob jemand in der Familie krank sei, sagte sie mit zitternder Stimme: „Nein, aber Angst, Angst…“
Die Tibeten erzählte uns weiter: „Meine Energie geht verloren, weil ich nicht arbeiten darf. In meiner Heimat habe ich einen Laden gehabt und habe selbst gemachten Schmuck verkauft. Hier darf ich das nicht, weil ich keine Bewilligung habe. Jede Nacht sind wir ruhelos und haben Angst davor, was morgen kommt – Corona oder ein negativer Asylbescheid?“
„Meine beiden Kinder sind in Tibet bei ihrem Onkel geblieben. Mein Sohn ist 15 Jahre alt und meine Tochter 8 Jahre“, berichtet sie traurig. „Die Tibeter haben in der Schweiz ein gutes Image“ sage ich. „Hoffen wir, dass du und deine Kinder die Bewilligung bekommen“. „Ja“, entgegnet sie, „aber es werden auch viele Tibeter*innen zurückgeschickt und ich hoffe, dass es für uns alle gut wird“.
Auf meine Frage, woher ihr Mann kommt und ob er auch deutsch gelernt hat, antwortet sie: „Leider nicht. Er ist Nomade und hatte in der Heimat sehr wenig Schulbildung, aber er bemüht sich zu lernen“. Frau L. bemüht sich um einen kostenlosen Deutschkurs für sie und ihren Mann. Ich gab ihr eine Nummer von einer Tibeterin, die bereits gut in der Schweiz integriert ist.
Menschen in Not hilft oft schon ein offenes Ohr und ein gutes Wort.
Die Frauen waren mit diesem Treffen sehr zufrieden, aber in mir selbst ist eine Frage offen geblieben. Warum leiden so viele Menschen in dieser Welt? Unser Zusammenleben ist so häufig von Unfreundlichkeit geprägt. Die Welt braucht mehr Wärme. So viele Menschen migrieren aufgrund von Armut und hungern dann in ihrem neuen Land nach einem mitfühlenden Wort, einem Lächeln, einer kleinen Geste. Wir sehen diese Menschen nicht, wir sind blind und lassen die anderen einfach mit ihren Ängsten stehen. Irgendwann später bemerken wir dann den Fehler.
So ist es einst sogar Mutter Theresa gegangen. Zweimal wurde sie vom Flughafen in Albanien zurückgeschickt. Sie wollte zur Beerdigung ihrer eigenen Mutter, doch Albanien liess sie aufgrund ihrer Religion nicht einreisen. Heute heisst der Flughafen, an dem sie damals zurückgeschickt wurde, „Mutter Theresa Aeroport“.