Geschichten verbinden – Geschichten bewegen – Geschichten haben die Kraft zu verändern
Die Welt besteht aus Geschichten. Viele bleiben stumm, obwohl sie Kraftvolles erzählen, Mut machen und Frieden stiften können oder Bereiche beleuchten, die auf diese Weise unter dem Deckmantel hervor gebracht werden und vermehrt ins Bewusstsein gerückt werden können. Wir müssen wissen, um wirklich verändern zu können. Wir müssen richtig hinschauen und hinhören und uns nicht davor fürchten, was wir dabei entdecken, uns dabei zugestehen müssen oder fühlen und empfinden könnten. Wenn wir ergriffen sind, dann handeln wir. Gefühle sind der Motor für Veränderung.
Alle Geschichten sind miteinander verwoben – seien es die gepriesenen oder die im Hintergrund versteckten, die aufgebauschten oder die bewusst verschleierten – und bilden das Geflecht des Lebens der Menschheit.
Ich möchte genau einer solch verschleierten Geschichte meine Stimme geben, sie in die Welt hinaus tragen und sie scheinen lassen. Sie zur Trägerin und Führerin meines Anliegens machen. Aufmerksamkeit auf eine Tatsache lenken, die vernachlässigt wird. Die besagte Geschichte erzählt das Schicksal und gleichzeitig auch die eindrückliche und mutige Verwandlung einer jungen Frau, einer jungen Mutter, aus Kenia und ist ein Beweis für die Kostbarkeit des Lebens.
Amina hat mir ihr Eingeständnis gegeben, dass ich ihre Geschichte erzählen darf. Sie ist 25 Jahre alt, alleinerziehende Mutter, hat 5 Kindern von 5 verschiedenen Vätern – alle ungewiss – und lebt in Kilifi, an der Nordküste von Kenia. Seit 2 Jahren weiss sie, dass sie HIV positiv ist. Ein unvermeidlicher Auswuchs ihrer längjährigen Alkoholabhängigkeit. Sie konnte ihre Sucht nur dadurch stillen, als dass sie als Gegenwert für Alkohol ihren Körper anbot, und dies immer ungeschützt, ohne Verhütung. Zudem sind jugendliche Frauen, welche die Kontrolle über sich verlieren, leichtes Opfer für Vergewaltigung und Missbrauch jeglicher Art.
Nicht selten kommt es vor, dass alkoholabhängige junge Frauen an einem Tag von mehreren Männern zu uneinvernehmlichem Sex gezwungen werden und sich am nächsten Tag nicht mehr bewusst daran erinnern können, doch der Scherz im Unterleib ist ein Indiz dafür. So bleiben oft die Väter der Kinder unbekannt. Und „Leichte Beute“ spricht sich schnell herum. Junge Frauen, die keine Chance hatten zur Schule zu gehen und einen Beruf zu erlernen – ihre Zahl ist frappant – sehen sich oftmals schon in sehr jungen Jahren durch ihre Lebensumstände zur Sexarbeit gezwungen, um so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies aushalten zu können bewegt sie dazu, Zuflucht zu Alkohol zu finden damit sie wenigstens für einen Moment nichts mehr fühlen müssen. Auf diese Weise verlieren sie sich allmählich in der Sucht.
Erzwungene Heirat im zarten Kindesalter mit einem viel älteren Mann ist ein Umstand, den die meisten jugendlichen Frauen mit Alkoholabhängigkeit gemeinsam haben. Einblicke in solche Dramen entpuppen ein ganzes Gefilde von Missbräuchen, besonders wenn es darum geht, die Ehre des Mannes und seiner Familie zu wahren. Impotenz zum Beispiel ist ein noch unantastbares Tabu, ein „Fluch“, und alles wird daran gesetzt, sie zu verheimlichen. Dabei gibt es keine Hemmschwelle, auch wenn dies bedeuten sollte, dass die sehr junge Frau dazu gezwungen wird, mit einem anderen Mann zu schlafen um schwanger zu werden und Kinder zu gebären als Beweis dafür, dass der Ehemann seine Pflicht, „sein Mannsein“ erfüllt.
Im soziokulturellen Kontext leben diese jungen Frauen mit einem tief eingebrannten Siegel des Stigmas und sie tragen Angst, Scham und Schuldgefühl in sich. Sie werden von ihren Familien verstossen und diskriminiert und befinden sich am Rande der Gesellschaft. Hinsichtlich der globalen Bemühungen zur Realisierung der Menschenrechte und der Gendergleichstellung werden junge Frauen mit Alkoholsucht weitgehend ausgeschlossen, ignoriert und bleiben auf sich alleine gestellt. Zusätzlich entzieht sich das Government jeglicher Verantwortung und Pflicht.
Amina ist eine zierlich gebaute junge Frau. Schon in der ersten Begegnung spürte ich diese tief aus ihrem Inneren entspringende Kraft – das Leben – wenngleich sie unterernährt, gesundheitlich geschwächt und ihr ganzes Sein von ihrem Leben und vom Alkohol geprägt und gezeichnet ist. Obwohl sie das Konzept von „amescosa-road to recovery“ – seit 2017 die erste Initiative in Kenia, welche sich ausschließlich und ganzheitlich speziell an jugendliche Frauen mit Alkoholabhängigkeit richtet, die keinen Zugang zu Unterstützung haben – zu Beginn des Erstgesprächs noch etwas vage versteht, sagt sie uns sogleich, dass sie nicht an eine solche Chance geglaubt hätte und den Wunsch verspüre, sofort vom Trinken abzulassen. Sie fühlte sich zum erstenmal respektiert, wahrgenommen, verstanden und als Person ernst genommen.
Schrittweise haben wir Amina in unserem ambulanten Treatment Centre durch ihren Prozess geführt und eng begleitet und gemeinsam mit ihr immer wieder Stolpersteine aus dem Weg geräumt. Für junge Frauen wie Amina ist der Weg hin zur Abstinenz kein einfaches Unterfangen, nicht nur im Zugang zu sondern auch ganz besonders während der Behandlung.
„Trinkfreunde“ versuchen sie abzuhalten und mit unwahren und einschüchternden Geschichten in ihrem Entschluss zu beeinflussen. Manchmal erfahren Familienmitglieder über Umwege von der Veränderung und versuchen den Behandlungsprozess aus Neid zu sabotieren. Wenn diese jungen Frauen sich im Zuge der Selbstauseinandersetzung weiter entwickeln und beginnen für ihr Dasein einzustehen, kann es für den Partner schwierig werden damit richtig umzugehen, auch wenn er von Anfang an in den Prozess miteinbezogen wird. Das kann dazu führen, dass er deshalb plötzlich seiner Partnerin die Erlaubnis untersagt, mit dem Behandlungsprozess fortzufahren und damit seine männliche Macht demonstriert. Ansätze der Emanzipation finden hier an der Küste noch schwerer ihren festen Nährboden. Es kommt auch vor, dass die junge Frau ihre Sucht aus religiösen Gründen von ihrer Familie verheimlicht. Sich in einer solchen Situation zu offenbaren und ein Zugeständnis zu machen bedeutet ein grosses Wagnis und ist mit starken Ängsten verbunden.
Schon kurz nach Beginn ihrer Behandlung wurde Amina von ihrer Tante aus dem Haus gejagt – sie durfte bei ihr in einer Art Abstellkammer auf dem erdigen Boden schlafen – und sie fing an, Gerüchte über Amina zu verbreiten, die sie noch mehr stigmatisieren sollten. Dies hielt Amina jedoch nicht von ihrem festen Entschluss ab, auch wenn für sie ungewiss war, wie sie von nun an wohnen sollte. Sogar ihre Geschwister unterliessen weiterhin jegliche Unterstützung. Der Versuch bei einer Freundin Unterschlupf zu finden scheiterte ebenfalls, da der Ehemann dies verbot. Weil es in Kilifi keine Einrichtung gibt, die in solchen Umständen Obdach bieten kann, beschlossen wir, Amina Unterschlupf im amescosa Treatment Centre zu geben, um ihr Schutz zu gewähren und Zeit zu gewinnen. Amina’s Wille und inniger Entschluss waren stärker als ihre Gefühle der Enttäuschung und Verletzung. Im Verlaufe weniger Tage fanden wir daher auch eine angemessene Lösung und konnten den Entzug einleiten. In nur 5 Tagen hatte sich die Erscheinung von Amina komplett verändert. Ihr Blick war nun klar, ihre Augen leuchteten, ihre Stimme wurde kräftig und ihr Körper gewann an Substanz. Ihr ganzes Wesen war für Heilung und Selbstverantwortung bereit. Sie wollte es unbedingt schaffen, für sich und ihre Kinder.
Im nachfolgenden Zeitraum der Nachbehandlung erschuf sich Amina nach einem für sie zugeschnittenen Businesstraining ihr eigenes, kleines Unternehmen, welches ihr die Mittel verschaffen sollte für sich und ihre Kinder unabhängig und auf gesunde und produktive Weise zu sorgen und die Schulgebüren bezahlen zu können, während sie sich mit ihrem Trauma und Schmerz in der Therpie intensiv auseinandersetzte und neue Lebensstrategien entwickelte.
Glücklich und stolz reiste Amina nach Behandlungsabschluss zu ihren Kindern nach Mariakani zurück. Die vergangenen Lebensumstände hatten es ihr nicht erlaubt, in ihrer Nähe zu sein. Amina hat für sich einen grossen Triumph errungen und als Beispiel für ihre Kinder ein klares und starkes Signal ausgesandt, dass es unter allen Umständen entscheidend ist für sein Ziel zu kämpfen, nicht aufzugeben und mutig zu sein. Dass Veränderung möglich ist, wo es zuvor keine Hoffnung gab. Dass die Verantwortung ganz bei sich alleine liegt eine Chance zu ergreifen und das Beste daraus zu kreieren, auch wenn die Reise unbekannt und mit Ängsten und Hindernissen verbunden ist.
Mich persönlich hat diese Erfahrung tief berührt und meinen Mut auf dem Weg hin zur Realisierung meiner Vision sehr angereichert. Amina beweist für mich auf überaus eindrückliche Weise, dass wir Menschen von Natur mit allem ausgestattet sind, was wir brauchen um unser Leben fundamental zu verändern, wenn wir lernen, uns wieder mit diesem innewohnenden Potential – unserem gesunden Kern – zu verbinden, es zu aktivieren und für uns zu nutzen.
Genau da setzt amescosa-road to recovery Initiative an. Wir unterstützen unsere Klietinnen ganzheitlich und befähigen sie, dass sie aus ihrem gesunden Kern heraus ihr Leben grundlegend verändern können und beziehen dabei die verschiedenen Aspekte des Lebens und der Umwelt mit ein, denn nur auf einem soliden Fundament kann die persönliche Verwandlung nachhaltig wirken, was auch entscheidend in die Zukunft der Kinder greift.
Als amescosa leben wir unseren Klientinnen in unserer Arbeit vor, mutig und beharrlich zu sein und immer wieder nach neuen Wegen und Möglichkeiten zu suchen, Hindernisse nicht zu umgehen, sondern die Bereitschaft zu entwickeln, sie als Gelegenheit für Wachstum zu sehen und Vertrauen in sich zu haben. Unser oberstes Ziel ist es, dass diese jungen Frauen und Mütter ihren einzigartigen Wert als Mensch spüren und sich das Recht geben, ihren Platz in dieser Welt einzunehmen, selbstbestimmt zu sein und sich zu schützen.
amescosa ist mehr als nur eine „simple“ Einrichtung für Suchtbehandlung. Unser Engagement hat viel mit feministischem Aktivismus zu tun. Wir geben jugendlichen Frauen mit Alkoholabhängigkeit eine Stimme, welche laut und klar hörbar ist, begegnen Widerstände proaktiv und setzten uns dafür ein, dass das Thema junge Frauen und Sucht auf der Agenda erscheint. Noch sind wir als Pioniere in der jungen, von uns lancierten Initiative das einzige Zugpferd und unser Tross ist bescheiden. Doch wo jemand überzeugt und unbeirrt für Veränderung und Gerechtigkeit aufsteht und unermüdlich voranschreitet, werden andere Gleichgesinnte folgen. So wird der Strohhalm zum starken Tau.
Amina schreibt ihre Geschichte neu und positiv weiter. Und viele andere junge Frauen mit Alkoholabhängigkeit können dies ebenfalls, wenn sie das Recht dazu erhalten. Sucht ist eine Krankheit und sie ist heilbar, wenn die Chance besteht, den Schmerz und das Trauma, das sich dahinter verbirgt, zu verarbeiten und die Umwelt das richtige Verständnis gewinnt und ihre Haltung jungen Frauen mit Sucht gegenüber ändern kann. Wenn hingeschaut wird, Verantwortung vereint getragen wird und Inklusion geschieht. Veränderung braucht den Mut, alle Aspekte zu betrachten und miteinzubeziehen, egal wie komplex und delikat sie sind und wie gross und teuer die Bemühungen sein müssen. Wir brauchen eine Betrachtungsweise welche es erlaubt, den Wert des Lebens als solchen immer an oberster Stelle zu setzen und welche die von uns konstruierten Klassifizierungen unterlässt. Dazu haben wir kein Recht und es verwehrt uns den wirklichen Reichtum des Lebens zu erfahren.