Am 3. März 2021, vier Tage vor der Abstimmung über das sogenannte Burka-Verbot, erschien auf Kath.ch ein Interview von Alice Küng mit Kacem El Ghazzali, einem Befürworter des Verschleierungsverbotes. Ich habe den Artikel erst vor kurzem online gefunden, wo er immer noch zu lesen ist. Die darin enthaltenen Aussagen verletzen meiner Meinung nach die Frauenrechte. Ich erkläre warum.
„Ein Mann verlangt, dass eine Frau den Niqab oder Hijab abnimmt, ein anderer Mann verlangt, dass sie den Schleier trägt, während wir Frauen verlangen, dass alle Männer aufhören über uns zu schreien, weil ihre Sprache wie das Krähen von Hähnen ist.“
Wenn wir Menschenrechtsaktivisten selbst als gebildete Elite sehen, die für Freiheit und Akzeptanz kämpft, sollten wir andere nicht ohne Beweise des Extremismus und Fanatismus bezichtigen. Und wir sollten uns bei der Beschreibung anderer Menschen nicht nur auf deren Erscheinung stützen.
Dieser Artikel erinnerte mich an eine Situation, die sich zur gleichen Zeit vor meinen Augen abspielte. Im Jahr 2019 wartete ich im Tram an der Haltestelle Hirschengraben, als eine Frau mit Niqab und einem mittelgrossen iPad in der Hand ebenfalls im Tram wartete. Ich lehnte mich an eine Hauswand und wartete, als eine Schweizerin mit ihrem Hund kam. Als sie die muslimische Frau sah, geriet sie in Panik, trat einen Schritt zurück, drehte sich zu mir um und sagte: „Oh mein Gott, sie ist eine furchterregende, extremistische Frau.“ Schau dir meinen Hund an, er hat Angst vor ihr. Vor allem, weil sie ein grosses iPad in der Hand hält, vielleicht wird sie eine Bombe zünden“.
Innerlich war ich wütend über das, was sie sagte, weil sie ein vorschnelles Urteil über die Frau gefällt hatte. Als sie eine verschleierte Frau sah, dachte sie nur an Sprengstoff und Extremismus. Dieses vorschnelle Urteil kam nicht von ungefähr, denn wer solche Artikel liest, neigt dazu, falsche Vorstellungen über andere Menschen zu entwickeln. Ich lächelte die Frau an und sagte: „Keine Angst, Dame, die haben alle Sprengstoffexperten nach Syrien, Afghanistan und in den Irak geschickt. Und du, mein lieber verwöhnter Hund, fürchte dich nicht. Sieh nur, wie freundlich ich bin, obwohl ich auch Muslimin bin“. Ich sagte das und ging, während die Frau weiter über den Islam schimpfte.
Sozialer Hintergrund
Ich muss erwähnen, dass Kassem El Ghazzali, mein Kollege am selben Institut in Bern, ein Kollege ist, den ich sehr schätze. Wir haben über viele politische und soziale Fragen diskutiert, aber auch über Situationen und Traumata, die wir zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten erlebt haben. Was ich heute erzähle, mindert weder den Respekt, den ich für Kassem empfinde, noch die Freundschaft, die uns verbindet. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Kassem und mir, vor allem unsere gemeinsame Muttersprache Arabisch. Darüber hinaus stammen wir aus arabischen Gesellschaften und teilen viele gemeinsame Sitten und Traditionen, vor allem in Bezug auf die Familie und die Grundlagen des Respekts innerhalb der Familie. Frauen nehmen in der arabischen Gesellschaft eine besondere Stellung ein, insbesondere die Mütter. Gehorsam gegenüber den Eltern wird als Pflicht angesehen.
Trotz der Ähnlichkeiten zwischen der marokkanischen und der syrischen Gesellschaft gibt es viele Unterschiede. Diese Unterschiede sind ein spezifisches Merkmal beider Gesellschaften.
Ich komme aus einer Stadt im Süden Syriens. Mein Vater folgte keiner Religion, obwohl wir offiziell Muslime waren. Mein Vater war ein säkularer Kommunist, ein weiser Mann, und seine Gespräche über Religion waren philosophisch und tiefgründig. Ich habe in meiner Familie nie erlebt, dass jemand den anderen zu etwas gezwungen hat. Respekt vor den Entscheidungen anderer war die Grundlage unserer Familienprinzipien. Ich trage keinen Hijab im Alltag, aber ich respektiere die Frauen, die ihn tragen.
Erschreckender Titel
Der Titel des Interviews „Verschleierte Frauen sind Extremistinnen“ und „Der Schleier symbolisiert Frauenverachtung und Extremismus“ ist ein direkter Angriff auf die Entscheidungen von Frauen in Bezug auf ihre Kleidung und ihr äusseres Erscheinungsbild. Warum wird der Hijab zu einem extremistischen Merkmal, sobald eine muslimische Frau ihn trägt? Wird die Jungfrau Maria als extremistisch bezeichnet? Sie trägt auch einen Hijab.
Die Jungfrau Maria hat bei den Muslimen einen hohen Stellenwert und gilt als eine sehr wichtige Figur im Islam. Der Islam hat ihr sogar eine eigene Sure (Kapitel) gewidmet, die „Sure Maryam“, und sie symbolisiert Keuschheit, Heiligkeit und Glauben. Aus diesem Grund dient sie vielen muslimischen und nichtmuslimischen Frauen als Vorbild. Nonnen tragen Kleidung, die Körper und Kopf bedeckt. Warum traut sich niemand, Nonnen zu sagen, dass sie den Hijab ablegen sollen, weil sie angeblich eine soziale Belastung darstellen?
Hijab und Burka oder Niqab gab es schon vor dem Islam, und es gibt viele Quellen, die das belegen. Meiner Meinung nach haben diese Kleidungsstücke nichts mit Extremismus zu tun. Die Welt hat viele extremistische Situationen erlebt, die von Menschen provoziert wurden, die keine Muslime sind. Die menschliche Natur zwischen Männern und Frauen unterscheidet sich in Bezug auf Geschlecht und Bedürfnisse, und die Kleidung von Frauen hat nichts damit zu tun. Deshalb sollten wir aufhören, solche Aussagen zu verwenden, die sowohl Frauen als auch Männer beleidigen.
Auf die Frage der Journalistin „Viele (Schweizer Niqabträgerinnen) sagen, dass sie das freiwillig machen. Glauben Sie ihnen?“ antwortete Herr Ghazali abstossend. Wie kann jemand, der sich für Menschenrechte und die Verteidigung der Freiheit einsetzt, den Hijab oder Niqab von Frauen als eine Belastung für die Gesellschaft betrachten und behaupten, dass Frauen, die ihn tragen, Extremistinnen sind und extremistische Interpretationen unterstützen? Warum mischt sich niemand in die Kleidung von Männern ein, und warum wird kein Mann als Extremist oder als Sexualsymbol bezeichnet, unabhängig davon, welche Kleidung er trägt?
Die Frage „Viele (Schweizer Niqabträgerinnen) sagen, dass sie das freiwillig machen. Glauben Sie ihnen?“ ist bereits beleidigend. Denn sie impliziert, dass eine solche Frage einer Nichtschweizerin nicht gestellt werden kann. Es gibt viele Frauen, die gezwungen werden, Hijab und Niqab zu tragen, unabhängig von ihrer Herkunft, geanuso wie es viele Frauen gibt, die in anderen Lebensbereichen unterdrückt werden. Die Antwort von Herrn Ghazali ist die andere Seite der Medaille: Ein Mann fordert ein Verbot der Verschleierung von Frauen, um den damit verbundenen sexualisierten Blick von Männern auf Frauen abzuschaffen, und bezeichnet Frauen, die anderer Meinung sind, als Extremistinnen. Damit reproduziert er die Instrumentalisierung von Frauen im männlichen Diskurs. Vielleicht kann ich eine Frau, die gezwungen wurde, Niqab oder Hijab zu tragen, verstehen, wenn sie ein Verbot von Hijab oder Burka fordert, aber ich kann nicht akzeptieren, dass ein Mann die Frage der Bekleidung von Frauen für seine Zwecke missbraucht und im Namen der Frauen spricht. Sind Frauen so unmündig, dass Männer für sie sprechen müssen?
Ignoranz gegenüber den Gefühlen von Frauen
Die Aussagen von Herrn El Ghazzali missachten die Gefühle der Frauen und berucksichtigen die schmerzhaften Erfahrungen, die sie tagtäglich machen, nicht. Viele meiner Muhajbat-Freundinnen waren in den letzten Wochen Belästigungen ausgesetzt, die man als rassistisch und hasserfüllt bezeichnen kann. Eine meiner Freundinnen, die in der Schweiz geboren wurde und Deutsch als ihre Muttersprache nennt, wurde aufgefordert: „Geh zurück in dein Land, in die arabischen Länder“, und ihr wurde gesagt: „Nimm diese blöde Kopfbedeckung ab, sie macht dich dumm“. Als mein 13-jähriger Sohn und ich im Tram sassen, wurde ein Mann gegenüber einer Muhajaba-Frau, die vor uns sass, unhöflich und sagte zu ihr: „Du bist in der Schweiz, du Dumme, nimm den Terroristenschleier ab“. Dabei lächelte er mich und mein Kind an, weil er dachte, wir seien Schweizerinnen und gehörten nicht der islamischen Gemeinschaft an.
Seit 2015 leben viele syrische Frauen in der Schweiz, die vor Krieg, Verfolgung und Gewalt geflohen sind. Auch diese Frauen sind wie Herr El Ghazzali gebildet bis gut ausgebildet und suchen in der Schweiz neue Chancen. Solche Artikel helfen diesen Frauen nicht, aktive Teilnehmerinnen der Schweizer Gesellschaft zu werden, sondern zwingen sie, sich anzupassen und vielleicht einen Schweizer Mann zu heiraten, um nicht des Extremismus beschuldigt zu werden. Müssen sie ihre Identität als muslimische Frauen aufgeben und den Schleier ablegen, nur um von gewissen Leuten als voll in die Schweizer Gesellschaft integriert betrachtet zu werden?
Hijab und Burka wurden bei der Abstimmung 2021 nicht verboten, aber eine solche Instrumentalisierungsinitiative kann jederzeit wieder auftauchen. Es ist eine Tatsache, dass die Kleidung von Frauen für politische Zwecke missbraucht wird und ihre Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten in Frage gestellt werden. Wir sollten nicht von Menschenrechten und Freiheiten sprechen und uns als Verteidiger dieser Prinzipien betrachten, wenn wir nicht zuerst die Freiheit und die Rechte der Frauen respektieren.
Disclaimer
Aus Gründen der Transparenz habe ich diesen Text im Oktober letzten Jahres an meinen Kollegen Kacem El Ghazzali geschickt, damit er meine Sichtweise und auch meine Wut in dieser Debatte lesen kann. Meine Meinung, die viele Frauen mit mir teilen. Ich hatte nicht vor, diese Debatte zu veröffentlichen, aber im Laufe der Zeit und mit der Annäherung des Frauenstreiks, der uns nur wenige Monate trennte, fühlte ich mich verpflichtet, diese Debatte allen zugänglich zu machen, vor allem nachdem ich eine Antwort von Kacem erhalten hatte. Er hat mich aufgefordert, mich mit diesem Streit auseinander zu setzen, weil er, wie er sagte und zitierte: „nicht zu ihm als Person, sondern zu einem Streitpunkt, der ihn dazu brachte, über viele Dinge nachzudenken, gekommen ist“.
Er schlug auch vor, den Text an Frau Alice Küng zu senden. Das habe ich bereits getan, aber sie hat nicht geantwortet.
Die Redaktion von Lucify hat beschlossen, den Text zu veröffentlichen, mit dem Vorbehalt, dass Herr Kacem El Ghazzali dadurch nicht beleidigt wird. Ich erklärte ihm die Situation und er antwortete am 24 Februar 2024 per Whatsapp: „Findest du in dem Hjab-Text, den ich zuvor geschrieben habe, irgendeinen persönlichen Angriff auf dich?“ Kacem El Ghazzali antwortete: „Auf keinen Fall, Zaher. Frieden und Liebe.“
Frieden und Liebe ist das, was ich allen unseren Lesern und allen Frauen und Männern gleichermassen wünsche.
Der Link zum Interview befindet sich unten: https://www.kath.ch/newsd/kacem-el-ghazzali-burkatraegerinnen-sind-extremistinnen/ Die Journalistin Alice Küng hat auf kath.ch auch ein Interview mit einer Niqab-Trägerin publiziert: https://www.kath.ch/newsd/erst-reformiert-dann-konvertiert-valentina-weiss-traegt-einen-niqab/
Was ist ein Nijab, ein Hijab oder eine Burka? Diese Illustration wurde von der Redaktion für die Abstimmung 2021 erstellt. Mehr Informationen dazu in unserem Artikel über das Burka-Verbot-Initiative: Verhüllungsverbot??