Die Geflüchteten kommen kaum zu Wort. Wie sie mit verschiedenen Aufenthaltsbewilligungen in der Schweiz leben, darüber hört man nicht oft. Das Flüchtlingsparlament hat genau dies ermöglicht. Hier können sie in aller Öffentlichkeit über ihr Leben sprechen und in der Politik zu Wort kommen.
Am 6. Juni fand die erste nationale Flüchtlingssession in der Rotonda der Berner Pfarrei Dreifaltigkeit statt. Der Anlass wurde vom Verein NCBI Schweiz «National Coalition Building Institute» bzw. dem Partizipationsprojekt «Unsere Stimmen» geplant und durch UNHCR Schweiz, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH, Terre des hommes Schweiz, dem Bereich OeME-Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, dem Eritreischen Medienbund sowie Bildung für alle unterstützt.
Am 6. Juni haben sich rund 75 Flüchtlinge aus 19 Kantonen und 15 Ländern in Bern zur Flüchtlingssession getroffen. Sie haben sich mehrere Monate auf diesen Tag vorbereitet.
Die Kommissionen waren: Kinderrechte, Bildung und Arbeitsintegration/Integrationsagenda, UMA/MNA, Alter, Westschweiz/Romandie, F-Status, Sichere Fluchtwege, Asylgründe und Interviews, Abgewiesene Asylsuchende, Gesundheit, Minimal-Standards.
Cihan Dilber, Teilnehmende der Kommission des Minimalstandard, erzählt uns folgendes:
Shishai Haile, Vorsitzende der Kommission Bildung und der Kommission Gesundheit über die Frage, woher die Idee zu einem Flüchtlingsparlament kam: « Die Idee für das Flüchtlingsparlament entstand letztes Jahr im Rahmen einer Weiterbildung beim National Coalition Building Institute Schweiz im Aargau. Wir haben darüber diskutiert, dass es die Jugendsession, die in der Schweiz Tradition hat und die Frauensession, die diesen Herbst zum zweiten Mal seit 1991 stattfindet, gibt. Flüchtlinge können auch eine Flüchtlingssession haben. Wir möchten hörbar und sichtbar sein.»
Shishai erzählt über die Kommissionen für Bildung und Gesundheit:
Die Kommissionen beschäftigten sich mit Gesundheit, Bildung, sicheren Fluchtwegen und Asylgründen. Nach intensiven Diskussionen hat jede Kommission am 6. Juni drei Vorschläge mitgebracht. Bei einer Abstimmung haben die Flüchtlinge zehn von zirka achtundzwanzig Vorschlägen ausgewählt und am 6. Juni nachmittags vor Politiker*innen präsentiert.
Nach der Meinung Roksan Kasem, Vorsitzende der Kommission Abgewiesene, hat das Flüchtlingsparlament sein Ziel erreicht, obwohl sich bis jetzt nichts verändert hat. Viele Medien haben über die Flüchtlinge und ihre Bewegung berichtet. Viele Menschen haben ihnen zugehört.
Roksan erzählt über die Kommission für Abgewiesene:
Die 10 Vorschläge, die beim Flüchtlingsparlament ausgewählt wurden, sind:
1- Trennung Sozialhilfe und Integrations-/Bildungsförderung: Wir fordern von kantonalen Parlamenten bzw. Regierungen, die Sozialhilfe und Integrations-/Bildungsförderung von Geflüchteten zu trennen. Die Zuständigkeit im Bereich Integration/Bildung soll einer unabhängigen Fachstelle übertragen werden.
2- Förderung der Bildung der Geflüchteten: Wir fordern, Geflüchtete in Ausbildung bzw. bildungswillige Geflüchtete mit folgenden Massnahmen zu unterstützen:
- Die finanzielle Unabhängigkeit für das Härtefallgesuch um eine Aufenthaltsbewilligung soll für Geflüchtete in Ausbildung nicht mehr vorausgesetzt werden
- Bildungswillige und -fähige Geflüchtete sollen einen Sprachkurs bis zum Niveau C1 besuchen dürfen.
- Geflüchtete sollen unabhängig vom Aufenthaltstitel zur Ausbildung zugelassen werden.
- Geflüchtete sollen unabhängig vom Aufenthaltstitel nach den gleichen Kriterien wie Einheimischen Stipendien erhalten.
- Anmelde- und Zulassungsgebühren zur Bildung (inkl. ECUS-Prüfungskosten) sollen vom Sozialamt oder vom Kanton übernommen werden.
- Es sollen Projekte lanciert werden, die das Ziel haben, Lehrpersonen, Berufsbildner*innen und Dozent*innen auf die Besonderheiten von Geflüchteten zu sensibilisieren.
- Der Anerkennungsprozess der ausländischen Diplome/der Leistungen (z.B. ECTS-Credits) soll beschleunigt und erleichtert werden.
3- Faire Behandlung aller Kinder unabhängig vom Aufenthaltsstatus: Das Flüchtlingsparlament fordert, dass alle Kinder – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – altersgerecht, fair und gleich behandelt werden insbesondere in Bezug auf das Recht auf Familie und den Zugang zu Bildung und zum Gesundheitssystem.
4- Stipendien für Studium und Ausbildung unabhängig vom Aufenthaltstitel: Das Flüchtlingsparlament fordert die Kantonsparlamente auf, allen Geflüchteten, unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel, Stipendien für Studium und Ausbildung zu gewähren.
5- Familienbesuche im Schengen-Raum mit „F“: Das Flüchtlingsparlament fordert freies Reisen im Schengen-Raum mit „F“-Ausweis für Familienbesuche.
6- Aufenthalt mit „F“ ganz anrechnen: Das Flüchtlingsparlament fordert, dass die Aufenthaltsdauer mit F-Bewilligung gleich gezählt werden soll wie die mit der B-Bewilligung.
7- Wechsel von „F“ zu „B“ nach 3 Jahren: Das Flüchtlingsparlament fordert, dass die Bedingungen der Wartezeit des Wechsels von F-Bewilligung zu B-Bewilligung in allen Kantonen einheitlich geregelt werden sollen und auf 3 Jahre verkürzt werden.
8- Familiennachzug erweitern: Das Flüchtlingsparlament fordert, dass die Schweiz die Definition der Familie beim Familiennachzug erweitert.
9- Lehre/Ausbildung für Abgewiesene: Das Flüchtlingsparlament fordert, dass abgewiesene Asylsuchende das Recht haben, eine Lehre oder Ausbildung zu besuchen und dass sie diese bei einem Negativentscheid abschliessen können.
10- Zugang zu B2- bzw. C1-Sprachkursen: Das Flüchtlingsparlament fordert, dass in allen Kantonen für alle bereitwilligen Geflüchteten (auch für Asylsuchende mit N-Bewilligung) Sprachkurse bis zu einem Mindestniveau von B2 angeboten werden sollen. Wer wegen vorheriger Bildung oder aktuellen Bildungszielen einen nachweisbaren Bedarf nach C1 oder Schweizerdeutsch aufzeigt, soll dabei unterstützt werden. Dafür braucht es transparente frühzeitige Informationen über Spracherwerbsmöglichkeiten. (Hoch-)Qualifizierte Geflüchtete sollten von Anfang an von Menschen derselben Fachrichtung angeleitet sowie ihre Diplome anerkannt werden.