Elternfreundliches Land?

Mit der Abstimmung vom 27. September sagte die Schweiz Ja zu zwei Wochen bezahltem Urlaub für alle neuen Väter. Mit diesem Ergebnis steigt die Schweiz in der Rangliste der Kinder- und Elternfreundlichen Staaten, wenn auch nur geringfügig, auf.

DIE WAHLEN
Am 27. September 2020 haben die Schweizer Bürgerinnen und Bürger mit Abstimmungsrecht der Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Verdienstausfall zugestimmt, die einen zehntägigen bezahlten Urlaub für Väter vorsieht. Diese wird im Juni 2021 in Kraft treten und vor allem Arbeitnehmern in kleinen Unternehmen zugute kommen, da grosse Unternehmen ihren Mitarbeitern bereits jetzt einen teilweise sehr großzügigen Vaterschaftsurlaub gewähren.

IN DER SCHWEIZ SIND DIE KINDER GLÜCKLICH, UND DIE ELTERN?
Gemäss einer kürzlich veröffentlichten Unicef-Studie ist die Schweiz nach den Niederlanden, Dänemark und Norwegen das vierte Land auf der Rangliste des Kindeswohls in reichen Ländern. Glück wird auf drei Ebenen gemessen: in der Welt des Kindes, in der Welt um das Kind herum und in der weiteren Welt. Auf jeder Ebene ist die Quantität und Qualität der mit den Eltern verbrachten Zeit ein wichtiger Indikator.

Dennoch ist die Schweiz eines der Länder, das neuen Eltern die geringste Sicherheit bietet. Statistiken der OECD aus dem Jahr 2016 zeigen, dass das Schweizer System eines der letzte in der Rangliste ist, wenn es darum geht, die Betreuung von Kindern bei der Geburt sicherzustellen.

In der Rangliste der Zeit, die berufstätige Eltern ihren Neugeborenen widmen können, ohne ihren Arbeitsplatz zu verlieren, rangiert die Schweiz sehr weit unten. Frauen erhalten 80% ihres Lohnes garantiert nur für drei Monate, während Männer bisher keine Leistungen erhalten haben und ab dem nächsten Jahr zwei Wochen bezahlten Vaterschaftsurlaub. Beide Geschlechter geniessen keinen Kündigungsschutz, falls sie sich entscheiden, ihren Urlaub unbezahlt zu verlängern.

DAS PROBLEM DER GLEICHSTELLUNG DER GESCHLECHTER
Das Ergebnis dieses Systems führt zu einer Ungleichbehandlung der Geschlechter. Viele Frauen sind gezwungen, ihre Karriere zu verlangsamen oder sie zu verlassen, wenn sie sich entscheiden, Mutter zu werden. Das von Unicef beobachtete Glück der Kinder beruht daher auch darauf, dass viele Frauen ihre Karriere aufgeben. Wie die Umfrage des Bundes zeigt, arbeiten etwa vier von fünf Müttern nicht.

Die Folgen für Männer sind ebenfalls recht negativ. Wenn sie den gleichen Lebensstandard auch mit einer Familie aufrechterhalten wollen, müssen die Väter ihre Arbeitszeit erhöhen. Vater werden in der Schweiz hat deshalb wenig mit der Betreuung eines Kindes zu tun, sondern vielmehr mit der Übernahme von Verantwortung für das Familieneinkommen. Die Freuden, Kinder aufwachsen zu sehen, das Abenteuer der Erziehung und der Alltag der Kindheit sind für Väter nur teilweise zugänglich. Hinzu kommt, dass im Falle einer Scheidung die Kinder oft mehrheitlich der Mutter anvertraut werden.

EIN FALL, NICHT DIE NORM
Dieses System ist nur eines der möglichen. Andere Staaten haben versucht, die Rolle der Eltern egalitär zu gestalten. Zum Beispiel sind in Schweden 19 Wochen für Mütter und 14 Wochen für Väter reserviert. In Deutschland sind 14 nur für Mütter und 8 nur für Väter, aber beide Eltern können insgesamt bis zu 14 Monate staatliche Entschädigung in Anspruch nehmen. In Japan haben Frauen sogar Anspruch auf 14 Wochen, während Väter bis zu 52 Wochen staatliche Entschädigung beanspruchen können. Männer in Japan entdecken die Rolle der Väter wieder, wie uns einer der Protagonisten des Dokumentarfilms Dads erzählt.

EINEN SCHRITT NACH OBEN IN DER RANGLISTE
Die zwei Wochen, die den Männern in der Schweiz zugestanden werden, sind zwar nur wenige Tagen, um die Vaterschaft voll zu geniessen, aber sie sind dennoch ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft langsam die Augen für die Gleichstellung der Geschlechter öffnet. Nach der Abstimmung vom 27. September rückt die Schweiz in der OECD-Rangliste vom letzten Quartal der Rangliste auf den Quartal mit den Ländern, die eine Mindestzulage garantieren, aber es liegt noch ein langer Weg vor uns.

http://www.oecd.org/els/family/database.htm

Über Perla Ciommi

Perla ist Film- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Leidenschaft für die Filmproduktion begann 2000 in Bologna, Italien mit einem Videokurs. Als sie ein Jahr später einen Dokumentarfilm in Indien drehte, entschied sie für sich, dass dies ihr Weg sein wird. Seitdem dokumentierte sie mit ihrer Kamera unter anderem die Häuserbesetzerszene in Paris, die Community des Radio RaBe in Bern, die Lindy-Hop-Szene in der Schweiz und die politische Partizipation von Migrantinnen in der Schweiz. Nach einer Weiterbildung in Kommunikation hat sie sich auch dem Journalismus und der Kreation von Webinhalten gewidmet.

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