Wie viele Regisseur*innen kannst du beim Namen nennen? Und wie viele Filme von Regisseur*innen hast du kürzlich gesehen? Da meine Antwort auf diese Fragen leider „nicht so viele“ lautete entschloss ich mich im Juli 2019 und im Rahmen der Initiative #52FilmsByWomen genau 52 Filme von Regisseur*innen innerhalb eines Jahres zu schauen. Die Initiative wurde 2015 von Women in Film ins Leben gerufen, einer Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Chancengleichheit von Frauen* in der Filmindustrie zu fördern. Mit ihrer Kampagne fordern sie Filmfans dazu auf, ein Jahr lang jede Woche den Film einer weiblichen Regisseur*in zu sehen, um so Filmemacher*innen auf der ganzen Welt zu unterstützen und eine grössere Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten zu lenken, denen sich Frauen* in einer immer noch stark von Männern dominierten Welt wie dem Filmbusiness nach wie vor stellen müssen.
Von den 250 Filmen, die im Jahr 2019 am meisten Geld in die Kassen spielten, sind 87 Prozent ausschliesslich von Männern produziert, so der neueste „The Celluloid Ceiling report“ des Center for the Study of Women in Television and Film. Darüber hinaus kamen 81 Prozent ohne Autor*innen und weitere 95 Prozent ohne Kinematograf*innen aus.
Der Mangel weiblicher Stimmen im Kino hat dabei auch direkte Auswirkungen auf die Geschichten, die wir zu sehen bekommen. Die Unterrepräsentation von Frauen* in kreativen Rollen (Regie, Drehbuch, Kinematografie, Produktion) führt zu einer Missrepresäntation weiblicher Charaktere und zu einer Dominanz von Filmen, die eine ausschliesslich männliche Sichtweise zeigen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter und Diversität im Filmbusiness sind essentiell, um verschiedene Perspektiven und Erfahrungen aller Gruppen unserer Gesellschaft abzubilden. Wir brauchen mehr Geschichten, die von Frauen* erzählt werden!
Meine #52FilmsByWomen-Challenge
Während eines Jahres schaute ich also 52 Filme (manche waren gut, manche weniger und viele absolut grossartig) mit Frauen* in der Regie oder mindestens in der Co-Regie – einschliesslich Features, Kurzfilmen, Dokumentationen, Fiktion und Animation. LGBTQ, weibliches Empowerment, Menschenrechte, soziale und politische Probleme waren die am häufigsten verarbeiteten Themen, die ich dabei sah. Die vollständige Liste findet sich hier auf Letterboxd.
Eine wichtige Richtlinie, die ich mir selbst auferlegte, war, dass ich eine geographisch möglichst diverse Auswahl an Filmen sehen wollte. Ich vermied explizit Filme, die dem Hollywood Mainstream entsprachen, um meinen eigenen Film-Horizont zu erweitern und mich neuen Filmemacher*innen und neuen Arten des Storytellings zu öffnen.
Dank meiner grossen Vorliebe für das lateinamerikanische Kino, kam es für mich wenig überraschend, dass ich letztendlich 17 Filme von lateinamerikanischen Frauen* sah. 14 Filme waren von europäischen Filmemacher*innen, 12 von asiatischen (inklusive Südostasien, Ostasien und Mittlerer Osten) und sechs von angloamerikanischen. Traurigerweise sah ich nur drei Filme afrikanischer Filmemacher*innen. Ich weiss jedoch, dass es fantastische Regisseur*innen aus verschiedenen Ländern des afrikanischen Kontinents gibt, es wird also weiterhin eine persönliche Challenge für mich bleiben, mehr ihrer Filme zu sehen.
Wo fand ich die Filme? Ich versuchte nicht bloss Filme von diversen Streaming-Plattformen zu beziehen, sondern war auch daran interessiert, Filmfestivals zu besuchen, um herauszufinden, ob diese sich ebenfalls um Geschlechter-Ausgeglichenheit in ihren Line-ups bemühen. Aus diesem Grund arbeitete ich letztes Jahr als Freiwillige beim Zürich Film Festival, wodurch ich die Möglichkeit bekam viele grossartige Filme auf grosser Leinwand zu sehen: For Sama, One Child Nation, The Farewell, Portrait of a Lady on Fire, Las Buenas Intencionesund Rocks. Ich durfte ausserdem an zwei grossartigen Vorstellungen teilnehmen, bei denen die Filmemacher*innen persönlich anwesend waren: Canción sin Nombre unter der Regie der Peruvianerin Melina León und Son – Motherder iranischen Filmemacher*in and Frauenrechtsaktivist*in Mahnaz Mohammadi.
Ein weiteres persönliches Highlight meiner #52FilmsByWomen-Erfahrung war mein Interview mit Manuela Irianni, einer jungen Filmemacher*in aus Argentinien, die in Zürich ihr Debüt-Feature Vera, Nunca Más el Silencio präsentierte. Das vollständige Interview gibt es hier.
Einen Teil der Challenge verbrachte ich im Covid-bedingten Lockdown, weshalb ich auch an vielen Online-Film-Festivals teilnahm, wie dem Iranian Film Festival Zürich und We are One: A Global Film Festival. Im Rahmen der Online-Version des Visions du Réel-Festival lernte ich zudem eine Menge grossartiger Kurzfilme einiger aufstrebender junger Regisseur*innen kennen, so z.B. Obāchan (von Nicolasa Ruiz), Jesa (von Song Kyungwon) und Mat et les Gravitantes (von Pauline Penichout).
Einige Statistiken: Frauen* vor und hinter der Kamera
Ich war freudig überrascht von der Tatsache, dass kein einziger der 52 Filme, die ich sah, allein von Männern produziert worden war. Bei 94 Prozent der Filme waren die Regisseur*innen selbst als Drehbuchautor*innen bzw. Co-Drehbuchautor*innen genannt, während die übrigen 6 Prozent andere weibliche Drehbuchautor*innen aufwiesen. Das ist weit entfernt von den Ergebnissen des „The Celluloid Ceiling reports“, nach denen nur an 19 Prozent der 250 Top Filme von 2019 weibliche Autor*innen beteiligt waren.
Der Bericht fand ausserdem heraus, dass in Filmen von weiblichen Regisseur*innen die Hauptrollen wesentlich häufiger mit Frauen* besetzt wurden, als in Filmen, die ausschliesslich von Männern produziert wurden. Betrachtet man die Liste der 500 erfolgreichsten Filme von 2019, verfügen 59 Prozent der Filme, bei denen Frauen* Regie führten, auch über weibliche Autor*innen, wohingegen bei den Filmen mit männlichen Regisseuren nur etwa 13 Prozent der Autor*innen Frauen* waren.
Und was ist mit den Frauen* vor der Kamera? Laut einer Studie mit dem Titel „It’s a Man’s (Celluloid) World“, stieg der Prozentsatz von Filmen mit weiblichen Darsteller*innen von 31 Prozent im Jahr 2018 auf 40 Prozent im Jahr 2019 – ein historischer Höchststand. Filme, die zumindest über eine weibliche Regisseur*in und/oder Autor*in verfügten, hatten zudem häufiger weibliche Protagonist*innen in Haupt- und sprechenden Nebenrollen, als Filme, in denen keine Frauen* an der Produktion beteiligt waren.
82 Prozent der 52 Filme, die ich sah, zeigten weibliche Protagonist*innen! Trotz der unterschiedlichen Kontexte, sah sich der Grossteil der weiblichen Charaktere mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert, die allesamt ihre patriarchale Unterdrückung offenbarten. Diese Unterdrückung zeigte sich in der geschlechtlichen Benachteiligung, häuslicher Gewalt und limitiertem Zugang zu Bildung, ebenso wie Homophobie and unterdrückter Sexualität.
Ein paar abschliessende Gedanken
Wenn ich mich nicht so sehr aktiv darum bemüht hätte, Filme mit weiblichen Regisseur*innen zu sehen, wäre ich dann jemals mit Filmemacher*innen wie Petra Costa, Haifaa Al-Mansour oder Sandi Tan in Berührung gekommen? Die Challenge erlaubte es mir, viele unglaubliche weibliche Filmemacher*innen zu entdecken, die mir zuvor völlig unbekannt waren. Ich fand neue und interessante weibliche Stimmen, die mir vielfältige Perspektiven eröffneten.
Es ist ein Leichtes, die auf der Ungleichheit der Geschlechter beruhenden Muster unserer Gesellschaft wie automatisch und völlig ohne es zu merken zu reproduzieren. #52FilmsByWomen war eine stete Erinnerung daran, genau zu überlegen, welche Künstler*innen ich unterstütze. Zweifellos hat diese Erfahrung auch meine Sehgewohnheiten verändert. Egal ob ich online nach einem Film suche oder die Line-ups von Filmfestivals durchforste, mittlerweile suche ich aktiv nach Möglichkeiten, Filme zu sehen, bei denen Frauen* Regie führten.
Hoffentlich wird es irgendwann keinen Grund mehr für Kampagnen wie diese geben. Bis dahin werde ich mein Bestes geben die Stimmen der Frauen* zu verstärken, indem ich ihre Filme sehe!
Zu guter Letzt: Meine Top 10
Von den #52FilmsByWomen, die ich gesehen habe, sind meine persönlichen Top 10 (ohne bestimmte Reihenfolge)…
- Portrait of a Lady on Fire, Regie: Céline Sciamma
- The Farewell, Regie: Lulu Wang
- Elena, Regie: Petra Costa
- Wadjda, Regie: Haifaa al-Mansour
- One Child Nation, Regie: Nanfu Wang, Jialing Zhang
- Song Without a Name, Regie: Melina León
- Happy as Lazzaro, Regie: Alice Rohrwacher
- Son-Mother, Regie: Mahnaz Mohammadi
- Shirkers, Regie: Sandi Tan
- For Sama, Regie: Waad Al-Kateab, Edward Watts