Im Alter von 15 Jahren musste ich beim Ausweisszentrum einen syrischen Ausweis beantragen. Davor war mein Name im Familienbuch eingetragen. Darin standen auf der ersten Seite die Namen meines Vaters und meiner Mutter. Es folgten drei Seiten für den Namen einer zweiten, einer dritten und einer vierten Ehefrau. Die letzten zwanzig Seiten waren für die Kinder reserviert. Im Falle unseres Familienbuches blieben alle dreiundzwanzig Seiten leer.
In dem Ausweiszentrum, welches sich in dem gleichen Gebäude der Stadtpolizei befindet, hatte ich den Eindruck mich in einem Verhör zu befinden. Um meinen Ausweis zu erhalten musste ich Passfotos und das Familienbuch mitbringen. Zu meiner Enttäuschung genügte dies aber noch nicht. «Es fehlen die zwei erforderlichen Zeugen!» murmelte der Beamte. Die Aufgabe der Zeugen war zu bestätigen, dass ich, Frau Sowieso, die Tochter von Herrn und Frau Sowieso sei. «Wie finde ich hier und jetzt jemanden, der mich kennt?», fragte ich. Der Beamte antwortete: «Es ist nicht wichtig, dass die Zeugen Sie kennen, sondern dass die beiden ihre Unterschrift im Register geben.»
Erstaunt ging ich auf die Strasse und bat zwei wildfremde Männer, mit mir ins Büro zu kommen um mit ihren Unterschriften meine Identität zu bestätigen. Der Beamte schrieb die Informationen auf, danach zog er ohne mich um Erlaubnis zu bitten an meinen Händen, drückte sie fest und begann, Finger für Finger Abdrücke zu machen. Handelte es sich dabei um einen normalen amtlichen Umgang? In jenem Moment war ich einfach fassungslos angesichts der Grobheit seiner Handlung.
Erst nach sechs Monaten konnte ich meinen Ausweis beim gleichen Grobian der Syrischen Staatsbeamten abholen. Damals ahnte ich nicht, dass ich diesen Ausweis einmal unfreiwillig verwenden würde. Ich musste ihn gegen meinen Willen benutzen, um den syrischen Präsidenten zu wählen. Eines Tages verwandelte sich meine Mutter in einen Armeeoffizier und befahl uns Kindern in militärischem Befehlston, ihr die Ausweise auszuhändigen.
Die einzige Option für sie war ein «Ja» für den Präsidenten. Die Wahlurnen oder «Zwangsurnen», wie ich sie nannte, wurden in Schulen und behördlichen Zentren in Syrien aufgestellt. Ich weigerte mich: «Ich will den Assad nicht wählen. Warum muss ich wählen, wenn sein Slogan > Assad für die Ewigkeit < lautet? (Assad ila al abad) Er ist sowieso für immer an der Macht.» Die Antwort meiner zornigen Mutter lautete: «Er ist ein Assad (der Name bedeutet ‹Löwe› auf Arabisch) und du bist nur ein Jamous (Büffel) >>.
Und so haftete an mir von Beginn meines Erwachsenenlebens das Gefühl, dass ich nicht wirklich in einem Staat lebte und ich mich erst recht nicht als eine Bürgerin betrachten durfte. Für mich schien es eher ein Garten der Tiere. Ein Zoo. Ausser dem Löwen, dem König der Tiere (Assad) und dem Büffel, also meine Kleinigkeit (Jamous), lebten in diesem Zoo noch Pferd, Esel, Stieglitz, Spatz, Hahn, Gazelle, Tiger, Bienen, Maus oder Kamel. Viele syrische Familien haben Tiernamen jeglicher Art. Darum passt es, dass uns der Löwe für immer beherrscht.
Im Wahlzentrum lautete die Frage auf dem Stimmzettel «Nein» oder «Ja». Gegen oder für Assad. Ich fragte mich, warum das Wort «Nein» überhaupt vorkam, wenn doch niemand so wählen durfte. Zusätzlich zur Abgabe des Stimmzettels war der Wähler verpflichtet, den Finger für einen Abdruck rot färben zu lassen. Das sollte ausdrücken, dass wir als Volk mit unserem Blut unseren Präsidenten beschützen. Meine Mutter kehrte zurück und hob ihre Hände hoch, um uns zu zeigen, dass sie alle ihre Finger rot gefärbt hatte, nicht nur die Daumen. Meine Mutter, das Büffelweib hatte die Fingerabdrücke gemacht, damit der Löwe ihre Kälber nicht verschlingen würde.
In Syrien finden wohl die einzigen Wahlen statt, bei denen niemand persönlich erscheinen muss. Es genügt, die Ausweise mit einem Familienmitglied oder sogar einem Nachbarn zu senden, um die überlebenswichtige Bezeichnung «Assadtreu» zu erhalten. Syrien-loyal ist zweitrangig.
Damit der syrische Machtapparat schnell wissen konnte, wer Assad gewählt oder nicht gewählt hatte, stempelte man einen Phönix auf die Ecke der Personalausweise der Ja-Sager. Wenn künftig jemand ein offizielles Papier beantragen wollte und dieser Stempel auf der ID fehlte, war es eine Frage der Zeit bis ihn der Löwe verschlingt.
Nach Jahren der Geheimdienstplanung wurde die sogenannte Wahlkarte erfunden, die nur für Präsidentschaftswahlen verwendet wird. Auch hier braucht man nicht persönlich zu gehen. Man braucht nur eine Mutter, die dich daran erinnert, dass du nichts anderes als ein Büffel bist.
Vater Löwe (Assad) brüllte am 10. Juni 2000 zum letzten Mal. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Ich sah mit meinen eigenen Augen, wie sich die Geheimdienstler in ihren grimmigen und furchterregenden schwarzen Kleidern über die Strassen von Damaskus verteilten und befahlen, alle Universitätsprüfungen abzubrechen und das Leben in ganz Syrien lahm zu legen. Ich ging auf die Universität zu als ich hörte, wie der Geheimdienst einem jungen Mann befahl seine Buchhandlung zu schliessen. Der Mann fragte nach dem Grund und erhielt die Antwort: «Assad ist gestorben». Diese Information war schockierend für ihn. Für mich war diese Nachricht katastrophal, weil ich mich sofort fragte: Wer ist der Brutalste, der dem verstorbenen Löwen folgen wird?
Der Mann weinte und ich wusste, dass die Stunde des Wehklagens gekommen war. Sich auf Brust und Kopf mit der Handoberfläche zu schlagen, ist im Orient oft Teil der Trauerrituale. Bei Staatstrauer empfiehlt sich dies erst Recht. Ein anderer junger Mann und ein Mädchen die neben mir gingen fragten, warum der Mann weinte. Ich antwortete ihnen mit dem gleichen Satz, den der Geheimagent gesagt hatte: «Assad ist gestorben» und lief weiter. Doch der Mann folgte mir, packte mich an meiner Kleidung im Brustbereich und donnerte: «Wie kannst du es wagen, das zu sagen?» Ich erschrak, aber antwortete wie jeder anständige Mensch in einer Trauersituation antworten würde: «Gottes Erbarmen sei über ihm.»
Ich ging zum Wohnheim wo Klagen und Weinen laut wurde und die Studenten sich ins Gesicht schlugen. Das Zentrum von Damaskus verwandelte sich in eine einzige Klagestätte. Sie lamentierten: «Mit unsere Seele und unserem Blut begehen wir den Märtyrertod für dich Bashar.» Bashar ist der Sohn Assads.
Der junge Löwe folgte schnell auf den alten. Der damals praktizierende Arzt heilte nun die Traurigkeit unseres Zoos. Die Verfassung des Landes wurde geändert und der junge Löwe schwor, dass er der blutigen Familiengeschichte treu bleiben würde. Er wurde ohne Parlamentswahlen eingesetzt. Doch um die Welt davon zu überzeugen, dass er der Sohn seines Vaters ist, befahl er seinen Hyänen die üblichen Zwangswahlen abzuhalten. Meine Mutter setzte mich unter Druck, damit ich meinen Mund während der Wahlzeit nicht öffnete, aber ihr meinen Ausweis gab. Sonst würde sie mich zu Hause einsperren. Sie wollte mich einsperren, um mich vor dem Kerker zu schützen.
Im Jahr 2014 wurden Wahlen für eine weitere Amtszeit von Assads Sohn abgehalten. Während der ersten Jahre hatte er die friedlichen Demonstranten als Vandalen und Infiltranten, die fremden Mächten dienen, bezeichnet und all jene ins Gefängnis geworfen, die ihn aufgefordert hatten zurückzutreten. Nun, 2014, setzte mich diesmal mein damaliger Ehemann unter Druck. Er bat mich um meinen Ausweis, damit er ins Wahllokal gehen kann und uns als Teil von Assads treuer Herde beweisen konnte. Für eine Weile blieb meine brüllende Stimme laut genug und ich konnte Widerstand leisten. Wie könnte ich für denjenigen stimmen, der uns als Bakterien bezeichnet und die Tötung von Tausenden Menschen, darunter auch Kindern angeordnet und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hatte? Stundenlang hielt mein Kampf an, bis mein Mann aufgab. Ab dem Moment schwor ich jener Angstherrschaft die Treue ab und musste von den mütterlichen Sorgen um ihre Kälber Abschied nehmen.
An diesem Sonntag Morgen, dem Wahlsonntag in der Schweiz, überfiel mich während ich im Bett lag ein seltsames Gefühl. Ein tragikomisches Gefühl wie ich kaum zuvor in meinem tragikomischen Leben in meinem vom Krieg versehrten Land gehabt habe. Eine tiefe Trauer überfiel mich kurz als ich mich an die Aussage meiner Mutter erinnerte: Er ist ein Assad und du bist nur ein Jamous. Ich erinnerte mich daran, wie ich mein ganzes Leben, seit der Geburt bis zur Flucht, als Teil einer Herde gelebt hatte. Während ich dieser Trauer verfiel, begann ich gleichzeitig meine ausländischen Kollegen und Kolleginnen auszulachen, die hier in der Schweiz das Recht fordern, zu den Wahlurnen gehen zu können. Aus mir brach ein lautes lachendes Brüllen und Muhen heraus, als ich von dem Glück erfüllt wurde, von Niemandem aus dem Bett gerissen und an die Wahlurnen geschickt zu werden. Je mehr ich muhte und brüllte wurde mein Lachanfall lauter und lauter und in mir wuchs die Lust an einen Ort zu gehen, an den ich mich an einem Wahltag zum ersten Mal freiwillig begeben würde.
Ich stand auf und ging lachend in den Berner Zoo Dahlhölzli. Dort gibt es keine Löwen.
Übersetzung: Rafat Tadros